Sonntag, 30. Mai 2010

Der Flughafen lag acht Kilometer vor den städtischen Randbezirken im Rotbraun der Wildnis, die unmittelbar ausserhalb der Stadt begann. Später, wenn ich den Unterhaltungen der Erwachsenen auf unserer Terrasse lauschte, fiel immer wieder das Wort „Brust“, wenn es um die Wildnis ging.
„...und sie verirrten sich in der „brousse“ -!“
Die Deutschen hatten das französische Wort „brousse“ für Wildnis in unsere Sprache adaptiert, es war mir aber nicht geläufig, ich hörte immer nur „Brust“ raus, und überlegte mir, daß wir nun für die nächsten zwei Jahre an Afrikas breiter Brust gut aufgehoben wären.
Ein Ziegelsteingebäude auf der rechten Seite erregte meine Aufmerksamkeit; Reiter in bunten Kleidern hielten sich davor auf. Das sei die Pferderennbahn, erfuhr ich, jeden zweiten Sonntagnachmittag finden hier aufregende Rennen statt unter der Schirmherrschaft der einmal im Monat persönlichen anwesenden Präsidentengattin Aissa Diori. Ich lehnte mich zurück, fühlte mich sauwohl, als würde ich endlich nach Hause kommen.

Dienstag, 25. Mai 2010

Hinter der Putzkolonne standen regungslos zwei große Männer, die bodenlange Gewänder an hatten, ihre Köpfe waren eingewickelt in zu einer Art Turban geschlungene weiße und schwarze Tücher, mit Gesichtsschleier, der nur die Nsae und die verspiegelten Sonnenbrillen freigab. Auf dem Rücken trugen sie altmodische Gewehre mit langem Lauf und verrosteten Metallteilen, am Unterarm hatten sie Dolche in verzierten Lederscheiden, und um den Hals trugen beide lange Lederschnüre zu einer Kette verschlungen, mit kleinen ledernen Päckchen und Silberschmuck. Sofort fühlte ich mich von den ersten leibhaftigen Tuareg angezogen, bewundernd starrte ich die eindrucksvollen Erscheinungen aus einer fremden Welt an, bis mich die Stimme meiner Mutter aus meiner Vaerzauberung riss.
Von den nomadischen Tuareg, einem wilden Volk, dessen verschiedene Stämme über ganz Westafrikas Wüsten über viele Landesgrenzen, die sie nicht anerkennen, hinweg, verteilt leben, wissen die Forscher bis heute nicht genau, woher sie eigentlich stammen. Ihre Sprache ist das „tamaschek“, zusammengesetzt aus Elementen sämtlicher Sprachen von südlichen Atlas bis zum Nil, gewürzt mit einem guten Schuß lateinisch und uralten, längst vergangenen Sprachen des Vorderen Orients. Der Name der Großen Göttin Ischtar bedeutet in mehreren altorientalischen Sprachen „Stern“. In latein wäre das „Astra“, in tamaschek „Atrr“. „Aqua“ ist auf latein Wasser, auf tamaschek sagt man “Ama“. Es gibt viele Beispiele. Meine persönliche Theorie ist: die Tuareg sind ursprünglich Indoarier. Äußerlich gleichen sie in verblüffender Weise manchen nordindischen Völkern, sie sehen vielen Rajasthani zum Verwechseln ähnlich, bevorzugen ähnliche Lebensweisen und Lebensräume. Sie haben dieselben Vorfahren, wie wir, ein Teil der Arier wanderte von Zentralasien in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends, so etwa um 1200 vor Christus, in Richtung Nordindien, der andere Teil wandte sich Europa und dem Vorderen Orient zu, von wo aus es naheliegend ist, über Ägypten in Nord- und Westafrika einzufallen. Unterwegs assimilierten sie Sprachen, Sitten, Glaubensformen, Gebräuche und genetisches Material. Ihre Schrift ist typisch für Völker der Wüste, sie besteht aus herrlich anzusehenden, leicht und schnell in Sand und Fels zu ritzenden Zeichen. Viele schöne Menschen habe ich gesehen auf der Welt, aber die Tuareg sind die schönsten von allen.

Montag, 24. Mai 2010

Ich war zwölf, als die Familie nach Niamey, Westafrika, zog für die nächsten zwei Jahre. Es kam mir vor, wie ein Neubeginn, der Start in eine neues Leben in einem unbekannten Land; vielleicht ließ dieses Land nicht zu, dass ich weiterhin so falsch, so gar nicht richtig war, und dass ich fast immer das Gefühl von Fremdheit, von Nicht-dazu-gehören hatte. Eine schlimme Erfahrung war für mich der Streit um das Fahrrad gewesen. Im Sommer, als ich zehn war, bekam ich ein knallrotes Fahrrad, mein liebster Besitz. Am Tag vor der ersten Italienreise mit der ganzen Familie sah ich Sigrid Nebeling, meine ärgste Feindin, demonstrativ langsam, in Spiralen fahrend, auf meinem neuen Fahrad, immer hin und her vor unserem Haus. Laut aufschreiend stürzte ich mich auf sie, haute sie von meinem Besitz runter und verpaßte der am Boden liegenden einen wütenden Tritt vors Schienbein. Sie mußte ins Krankenhaus gefahren werde. Dort zogen sie mit speziellen Instrumenten bei örtlicher Betäubung den fingerdicken Splitter meiner Holzschlappen heraus. Zur Sicherheit verpaßten sie ihr noch eine Tetanusspritze. Meine beschämten und erbosten Eltern gaben dem kreischenden Sigrid den Beutel mit meinen Lieblingsbonbons, den die Mutter meiner Freundin Anita mir als Reiseproviant geschenkt hatte. Erdbeer-Sahne. Ich mußte zur Strafe wieder mal sofort ins Bett, obwohl es ein schöner Sommertag war und alle Kinder draußen spielten. Die Rolladen wurden dicht heruntergezogen. Nach drei gräßlichen Stunden Grübeln, Wut und dem Gefühl des Alleingelassen-Seins eröffnete mir meine Mutter, dass nun alles aus sei. Sie würden morgen die Reise nach Italien ohne mich antreten. Ich würde ins Heim für schwer Erziehbare gesteckt, das hatte ich nun davon. Ich glaube, das war das erste mal, dass ich ernsthaft, nicht zum Spaß, daran dachte, mich allem zu entziehen. Ich kann sowas nicht. Ich bin nicht geschaffen, zu leben, wie ihr es tut, ging mir durch den Kopf, ich kann nicht bringen, was von mir erwartet wird. Ich will nicht die Pilze auf latein können, ich will nur so, zum Spaß klettern, ich will auch keine Eislaufprinzessin sein, ich will einfach nur so Schlittschuhlaufen, wie ich gerade will, und ich muß auch keine Medaille in 100-Meter-Lauf gewinnen, ich will nur so zum Spaß rennen. Im Kopf schrie ich laut. Über die Lippen brachte ich keinen Ton. Vor meinem geistigen Auge lief ein quälender Film. Ich fühlte mich elend. Und Sigrid Nebeling nehme ich mich mal richtig vor, bei der nächsten Gelegenheit. Die ergab sich erst fast vierzig Jahre später, ich sah sie in der U-Bahn, sie saß mir gegenüber. Sie machte einen altgewordenen, müden Eindruck, hatte aber noch das selbe Gesicht. „Das ist Sigrid Nebeling.“ sagte ich meiner Freundin ins Ohr.
„Woher kennst du die Frau?“ wollte sie wissen.
„ Sie hat mal mein Fahrrad genommen ohne mich zu fragen…“
„Wann hattest du ein Fahrrad?“
„Als ich zehn war.“
Nach den Aufregungen der vergangenen Monate ist es endlich soweit. Die beiden Lehrgänge waren absolviert, ein Stapel Sommerkleider für jeden war angeschafft worden von dem Geld, was sie uns zum Ausrüsten der Familie ausgezahlt hatten, das Auto wurde verkauft, passende Mieter für das Haus gesucht, Telefonnummer für zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen, wir von unseren Schulen abgemeldet, Adressen von Mitschülern und manchen Lehrkräften notiert, von Freunden verabschiedet. Seit einem Monat war meine Mutter mit uns allein, mein Vater war bereits in Niamey, um ein Haus für uns zu suchen und unsere Ankunft vorzubereiten. Mit drei Kindern, schwerem Gepäck und leichten Beklemmungen bestiegen wir in Köln ein Propellerflugzeug nach Brüssel. Vor Aufregung kotzten meine Geschwister in der wackeligen Maschine. Ich besah mir in seliger Ruhe die Welt von oben. Unser erster Flug! Das Starten und Landen fand ich am tollsten, und selten sah mich meine Mutter so ruhig und vernünftig, wie sie mir sagte, mit einem misstrauischen Seitenblick zwischen zwei Brechanfällen. Abgehoben lächelnd überstand ich jedes noch so holperige „Luftloch“ ohne Übelkeit, im Gegenteil, ich genoß das Gefühl, zu fliegen, - keinen Bodenkontakt, nur Wolken und Himmel. Von Brüssel kommend, wechselten wir in Paris den Flughafen und stiegen um in eine große Verkehrsmaschine. Das Mittelmeer und die nordafrikanische Küstenlinie ließ sich gut erkennen. Hoch über Algerien bekam ich eine Ahnung davon, was Wüste ist. Die Sahara sah von oben schon so wunderbar aus, wie mochte es sein, sie unter den Fußsohlen zu spüren… Spuren ließen sich ausmachen, als würden die Wüstenwesen stets die gleichen Wege bevorzugen, als seien die Trampelpfade von Anbeginn der Zeit dagewesen, eingraviert in den harten, heißen Boden aus Steinen, Sand, Geröll und Staub: verirren unmöglich mit diesen untrüglichen Wegzeichen. Ich überflog die jahrtausendealten Felszeichnungen von Elefanten, Giraffen, Antilopen. Sie lebten einst genau dort, wo sich jetzt der Mittelpunkt der Sahara befindet.
Brütendheiße Luft schlug uns schwer entgegen. Wir waren gelandet im Nichts, in wuchtigem, tiefen, Rotbraun, unterbrochen nur von hellgrauem Gestein und dornigem Gebüsch inmitten kleiner Inselchen verdorrten Grases. Beim Verlassen des Sabena-Jets hatte ich den Eindruck, durch eine Mauer zu gehen. Ungewohnt dick stand die Luft vor mir. Das Atmen fiel schwer, Hitze erfüllte augenblicklich die aufgeblähten Lungen, erfaßte mit einem Schlag den gesamten Organismus. Dann dieser… Geruch! Das Land schien überzogen mit einer undurchdringlichen Geruchsschicht. Deutschland riecht nicht: Kontinentalklima, Zone gemäßigt; Gerüche entfalten sich nicht so, wie in heißen, tropischen Gegenden. Hitze verstärkt um ein Vielfaches alles, was uns in die Nase steigt. Eingepackt in mehrere Lagen glühender Stoffe aus flimmernder Luft liegt vor mir - Niger. Das Schwarze Land am Südrand der großen Sahara. Steiniges, sandiges Land zwischen ausgedehnten Wüsten, sonnenverbrannten Gras-Savannen, urtümlichen Dornbuschsteppen, merkwürdigen Felsentürmen, und ganz im äußersten Süden, wo die Landesgrenzen bei Dahomey und Obervolta in einer grandiosen, menschenleeren Landschaft bereit sind, in seltenen Jahren hinreichender Regengüsse, dir eine vage Ahnung von Urwald zu schenken, mit raren Ansammlungen sämtlicher Grüntöne dieses Planeten. Interessante, fremd anmutende Organismen bewohnen diese ausgedörrte Feuerwelt, verschmolzen mit ihrem Lebensraum zu einem einzigen Intensivum.
Die Menschen im Flughafengebäude, davor und darauf, waren die ersten Einheimischen, die ich zu Gesicht bekam. Während wir die an die geöffnete Fluzeugtür angeschobene Treppe hinunterstapften, ich mit meinem kleinen Köfferchen, meine Schwester mit Armen voll Puppen, mein kleiner Bruder mit einem Rucksack voll Lego, entdeckte ich in der neugierigen Menge hinter dem Zaun meinen Vater. Er hatte einen Astronautenhaarschnitt und winkte und schrie voll Freude unsere Namen. Meine Mutter verließ als letzte das Flugzeug, sie achtete darauf, daß nichts liegenblieb und schleppte das gesamte restliche Handgepäck. Wir Kinder rannten auf unseren Vater zu, der überglücklich seine Arme weit geöffnet hatte und strahlte. Nach der Paß- und Zollprozedur waren wir nicht mehr durch Sperren getrennt. Das Gepäck wurde getragen von zwei braunhäutigen jungen Männern in europäischer Kleidung und einem rabenschwarzen Mann in einem hellblauen, bodenlangen, ärmellosen Gewand mit Stickereien am Saum. Er lachte mich blendendweiß an, ein kehliges Gurren aus seinem breiten, freundlichen Mund. An der Decke des kleinen Gebäudes rotierten gemächlich riesige Ventilatoren, wie Windmühlen, um die Luft erträglicher zu machen. Irgendwie waren sie, wie Heuwender, sie erfrischten nicht, sie wendeten die schwere, glutheißer Luft nur um.

Dienstag, 18. Mai 2010

Gegenüber dem Neusprachlichen Mädchenlyzeum, einer Nonnenschule, die ich nun besuchte, getrennt durch den Stadtkern im Tal, befand sich, ebenfalls auf halber Höhe, das ebenfalls neusprachliche Gymnasium für Jungen, an dem mein Vater unterrichtete. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Gymnasium und Lyzeum? Ich hatte zum erstenmal englisch und merkte, dass mir Sprachen Spaß machen. In Mathematik und dem Rest der naturwissenschaftlichen Fächer tat ich mich immer schwerer. Auch den Umgang mit den Nonnen fand ich schwierig. Zur Freundin erwählte ich mir, wie immer, das hübscheste Mädchen unserer Klasse, sie kam zum Entsetzen der frommen Schwestern am ersten Schultag als einzige nicht im Rock. Ihr Name war Ute Dunkel. Sie trug eine hellblaue Hose, hatte ein hellblaues Haarband um ihr blondes, schulterlanges Haare mit einer feinen Aussenrolle geschlungen.Obwohl sie äußerlich wirkte, als käme sie aus der Großstadt, wohnte sie mit ihren Eltern in Ottfingen, einem kleinen Dorf ungefähr zwanzig Kilometer von meinem Städtchen entfernt. Ute war ein Einzelkind. Ihre kleine, zierliche Mutter galt in ihrem Nest als die „Dorfschöne“, wie Ute mir mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme berichtete. Sie trug die höchsten Stöckelschuhe, die ich bis dahin je gesehen hatte, die dazu passende Frisur und das passende Make-up: auf dem Oberkopf bestimmt fünfzehn Zentimeter hoch toupiert, mahagonifarben, hellrosa Lippenstift, grünen Lidschatten und perfekt nach außen geschwungenen, schmaler aufgetragenem Lidstrich, in einer gewagten Spitze endend. Ganz Ottfingen drehte sich nach ihr um, wenn sie graziös zwischen den Kuhfladen her stolzierte. Mir imponierte an Ute, dass sie nicht, wie alle anderen, in Rock oder Kleid kam zum ersten Schultag kam. Sie wurde von Schülerinnen wie Lehrerinnen gleichermaßen befremdet angestarrt. Die Art, wie sie es, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, völlig gleichgültig, mit erhobenem Kopf, hinnahm, fand ich umwerfend. Das hätte ich nicht so stolz ertragen, dachte ich bewundernd, und beschloss, solch eine Haltung zu lernen. Ich befreundete mich mit ihr und durfte sogar ab und zu nach der Schule mit dem Bus zu ihr nach Hause mitkommen und bei ihr übernachten. Zusammen machten wir die Hausaufgaben und lernten ein bißchen, etwa im neuen Fach Biologie alles über „Das Haushuhn“, über welches wir am nächsten Tag einen kleinen Vortrag halten mußten.

Montag, 17. Mai 2010

Im dritten Schuljahr hatte ich zum ersten Mal ein „Befriedigend“, in Rechnen, das hatte es bis dahin nicht gegeben. Daß ich in dem neuen Fach „Schön schreiben“ mit einem richtigen, blau-silbernen Patronenfüller (Marke „Pelikan“, die grundsätzlich mehr Anhänger hatte, als die türkisgrüne Konkurrenz „Geha“), mit blauer Tinte in ein liniertes Schönschreibheft bei Herrn Padberg eine glatte Eins (hier fiel die rote Tinte angenehm auf) erzielt hatte, blieb unbeachtet. Frau Schulte wollte die Unterschrift beider Eltern unter all dem Rot sehen. Mein Vater war mit Zähneputzen beschäftigt nach dem Mittagessen. Kleinlaut hielt ich ihm das aufgeschlagene Heft zum Unterschreiben vor, auf den Klodeckel. Er nahm das Heft in die Hand, starrte mit demonstrativem Ärger und jeder Menge Unverständnis auf die vier bedrohlichen Worte unter der schlechten Note und sah mich enttäuscht an. „Was ist das denn?!“ hub er an. Die Enttäuschung in seinem Gesicht zusammen mit seinem fremden Tonfall bewirkte in mir sofort ein Gefühl der Kleinheit. Ich fühlte mich furchtbar. Ich hatte versagt. Richtig versagt. “Muriel arbeitet sehr flüchtig“ las mein Vater mit akzentuiert gesetzter Betonung theatralisch vor. Was war das eigentlich, „Flüchtig“? Zu fragen wagte ich nicht, aber ich glaubte, zu verstehen, daß man in so einer Situation gerne flüchten würde, - oder? Offensichtlich bedeutete dieses Wort etwas ganz furchtbar Grauenhaftes. Ich ließ den Kopf hängen. Mit strengen Blicken setzte mein Vater seinen Namen unter diesen Beweis des Versagens. „Niemals wieder will ich so was sehen!“ er gab mir das Heft und schickte mich zu meiner Mutter, die sehen sollte, was ich da Übles fabriziert hatte, und dies durch ihre eigenhändige Unterschrift bezeugen sollte. „Nie, nie, nie wieder, hastedas auch gehört!?“.
Barbie-Puppen haben ihren Preis, und da ich nie Geld hatte, überredete ich den gutmütigen Onkel Gerd, der inzwischen massive Zweifel am Sinn des Klosterlebens entwickelte, mit mir ins Spielzeuggeschäft zu gehen. Sein kleiner Geldbeutel erlaubte immerhin die Anschaffung einer „Petra“-Puppe, und da „Petra“ ebenfalls diese dürren Beine, die Wespentaille, vor allem aber die Brüste besaß, auf die ich so scharf war, trug ich das Päckchen erwartungsvoll nach Haus, wo ich sofort im Keller verschwand. Nach und nach besaß ich einen Harem von fast einem halben Dutzend nackter, gewagt geschminkter Tempeltänzerinnen, mit interessantem Schmuck an interessanten Körperstellen. Die sechs Time-Life-Bände über Kunst und Kultur, von Ägypten bis in die Gegenwart, fesselten meine Aufmerksamkeit. Die Abbildung der Mumie von Pharao Ramses dem Zweiten hatte es mir besonders angetan, so lag es nahe, mich für die Kunst des Mumifizierens toter Körper zu begeistern. („…mit Haken das Gehirn durch die nächste, natürliche Öffnung entfernen: durch die Nase; anschließend die Innereien aus der Bauchhöhle…“) .

Freitag, 14. Mai 2010

Auf der Rückfahrt ins Sauerland durften wir uns alle drei jeder für sage und schreibe fünfzig Pfennig in einem Kiosk südlich von Frankfurt am Main, in Neu-Isenburg, wo meine Tante Inge wohnte, was Süßes aussuchen. Mit Riesenaugen bestaunten wir die süß-klebrige, schaumig-schokoladige, karamellig-zuckrige Riesenauswahl in Riesengläsern. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich etwas Neues entdeckte, wovon ich bisher nur gehört, jedoch noch nie reingebissen hatte. In unserem Heimatstadtchen gab es keinen Kiosk, das gab es nur in großen Städten, aber die Werbung, die gab es auch bei uns. Vor Entzücken ganz still geworden,leckte ich mich andächtig millimeterweise auf dem Rücksitz unseres VW-Käfers durch mein allererstes „Mars“, das bekanntlich bei Arbeit, Sport und Spiel mobil macht, um meine Mutter, die den ihrer Meinung nach unverschämt hohen Preis von vierzig Pfennig nicht gerechtfertigt fand, von der Angemessenheit desselben zu überzeugen, indem ich extra langsam lutschte und ihr nach einer dreiviertel Stunde triumphierend einen kleinen, zusammengeschmolzenen Klumpen aus Schokoladenmasse und Karamell zwischen verklebten Fingern vor die Nase hielt, zum Beweis, das immer noch was da war nach so langer Zeit; und als überzeugendes Argument für das absolut ausgewogene Preis-Leistungsverhältnis dieses uns allen bis dahin unbekannten großartigen Schleck-Erlebnisses. Meine feigen Geschwister waren kein Wagnis eingegangen und hatten sich für ihre fünfzig Pfennig nach langem Hin- und Her dann doch für die altbekannten langweiligen Lakritzschnecken, Kirschlutscher, Ahoi-Brausepulvertütchen, Gummischnuller und Prickel-Pitt-Bonbons entschieden und glaubten, mir mit ihren prall gefüllten weißen Papiertüten imponieren zu können, weil ich ja „nur zwei“ Sachen hatte. Sie lachten mich aus und meinten, sie seien viel schlauer gewesen, als ich, weil sie ihre fünfzig Pfennig in Masse investiert hatten, hingegen ich auf Qualität gesetzt hatte. Ich hatte mir für die restlichen zehn Pfennig einen Mohrenkopf gekauft, den ich als erstes wegschleckte, vor dem neuartigen Marsriegel, als Vorspeise sozusagen. Natürlich hätte ich nicht gewußt, was eine Vorspeise ist. Mohrenköpfe schmeckten mir von jeher furchtbar gut, ich war völlig geck nach Mohrenköpfen. Beim Bäcker Deimel auf der Winterbergstrasse kostete ein Mohrenkopf zehn Pfennig, wie in dem Neu-Isenburger Kiosk. Manche sagten „Negerkuss“ dazu, den Ausdruck konnte ich nicht leiden, das hörte sich so unappetitlich an. Als ich vier Jahre alt war, pflegte ich Groschen, die mir meine Oma schenkte, im Mund zum Bäcker Deimel zu bringen. Groschen schmecken absolut scheußlich, trotzdem verwahrte ich das Geld im Mund. Heute würde ich vom Transport monetärer Objekte in der menschlichen Mundhöhle eher abraten, denn mir passierte, worauf alle, auch der Bäcker Deimel, seit langem wartete. Ich verschluckte versehentlich den Groschen, mit dem ich den soeben entgegengenommenen Mohrenkopf zu bezahlen gedachte. Reflexartig biss ich ein großes Stück aus dem Mohrenkopf raus, um so den penetrant-fiesen Geschmack zu übertönen. Der Bäcker Deimel starrte mich einen Moment lang entgeistert an, dann wurde er ein bißchen rot im Gesicht und rief nach seinem Gehilfen, der mich auf dem schnellsten Weg nach Hause brachte. Ich fing an schrecklich zu weinen, weil ich mich daran erinnerte, daß meine Oma mehrmals nachdrücklich behauptet hatte, Groschen seien giftig, deshalb glaubte ich, ich hätte nur noch wenige Minuten zu leben, außerdem war der angebissene, halb geschmolzene Mohrenkopf in meiner klebrigen Hand nicht bezahlt und ich wollte vom Lieben Gott nicht als Diebin ausgeschimpft werden. Eine Stunde später zeigte uns der Arzt Dr. Diefenbach das Röntgenbild von meinem Magen, wies auf einen Schatten, von dem er behauptete, das es sich hierbei um den verschluckten Groschen handele und instruierte meine aufgeregte Mutter, mich solange mit Haferschleim zu ernähren, aufs Töpfchen zu setzen und mein Stoffwechselendprodukt auf das Zehnpfennigstück zu durch suchen, bis es gefunden werden würde. Es dauerte fast eine ganze Woche, dann hielt meine Mutter triumphierend die beschmierte Wäscheklammer mit den beschmierten Groschen hoch. Fünf Minuten später stand ich beim Bäcker Deimel vor der Theke und hielt voll Vorfreude das sauber abgewaschene Geldstück hoch: „Einen Mohrenkopf, bitte!“ Nachdem mein Onkel Gerd sich die Begebenheit hatte erzählen lassen, meinte er: „Du hast wohl deinen Geldbeutel im Bauch!“ Diese Bemerkung fand ich so lustig, daß ich eine Lachkrampf bekam und noch Jahre später allen, ob sie wollten, oder nicht, davon erzählte und mich immer wieder von Neuem darüber tot lachte. Kinderwitze halten mindestens doppelt, wenn nicht gar dreimal so lange, wie die Witze der Großen. Ein typischer Kinderwitz der Schulanfänger war: Fritzchen (in den frühen Sechzigern gab es Unmengen von Fritzchenwitzen) steht an der Ecke und wirbelt einen Rosenkranz karrussellartig auf dem Zeigefinger, kommt ne alt Omma und sagt, also, Junge, das darf man aber nicht, weißt du denn nicht, daß in dem Rosenkranz der Liebe Gott, der Heilige Geist und der Herr Jesus Christus wohne? Fritzchen steckt den Rosenkranz in die Hosentasche, die Omma geht weiter, als er sie nich mehr sieht, holt er den Rosenkranz wieder raus und sagt, Haltet euch fest, es geht weiter! Ein anderer beliebter Witz: Was ist die Marienzigarrette? Antwort: Ernte 23, denn sie ist von höchster Reinheit. Oder Winnetou-Witze: Uff, sprach Winnetou, nahm sein Messer, schnitzte sich ein Loch in den Bauch und verschwand darin. Solche naiven Geschichtchen waren bei uns Kinden äußerst beliebt, wir lachten wie die Bekloppten immer wieder über dieselben Sachen, als hörten wir sie zum ersten und nicht zum hundertsten Mal.

Donnerstag, 13. Mai 2010

Das kratzte zwar scheußlich und stach und irrsinnig heiß war es in der prallen Sommersonne, aber ohne die Mütze hielten meine prächtigen goldenen Zöpfe ja nicht. Dann und wann kamen Spasziergänger vorbei, die kicherten belustigt (manche wiesen gar mit ausgestrecktem Arm auf mich und tippten sich mit dem Zeigefinger an den Kopf) über ein schwitzendes kleines Mädchen mit verträumtem Gesichtsausdruck und einer wollenen Kopfbedeckung, unter welcher trockene Grasbüschel hevorstachen. Dabei thronte hier im Zentrum ihres Reiches die auf der ganzen Welt für ihre Zartheit, Anmut und Schönheit berühmte Prinzessin – ich staunte oft über die Dummheit der Leute. Das war die Sorte Menschen, die auch nicht in der Lage war, die kleinen Welten zwischen Steinen, im Sand, in Blumenwiesen und vor allem im Moos wahrzunehmen. Moos übte einen besonderen Reiz auf mich aus. Ich legte mich lang auf den Waldboden, auch auf matschigen, um auf den weichen Polstern das Treiben der Elfen, Kobolde, Zwerge und Wichtel zu beobachten, wie sie mit leuchtenden Käferchen bespannte Wagen durch ihre filigrane grüne Welt steuerten, niedliche Zwerge, die mit ihrem winzigen Handwerkszeug kleine Tische und Stühle schreinerten und schelmische Kobolde, wie sie kichernd neue Streiche ausheckten. Am faszinierendsten jedoch fand ich die Elfen, winzigkkleine wunderschöne Jungen und Mädchen mit übergroßen, steingrauen, amethystvioletten oder grasgrünen, lang bewimperten Augen, gekleidet in Hosen, Röcke und Blusen aus Blättern und mit phantastischen Mützen aus Blüten auf wehendem, kniekehlenlangem, schimmerndem Haar. Leise lächelten sie mich an mit ihren Zauberaugen, stille Melodien direkt in mein Herz summend, rätselhafte Symbole ihrer heimlichen Existenz in meine Seele einstreichend und Schmetterlinge waren die Boten, die mir märchenhafte Nachrichten sandten aus dem Reich der Moose und Steine. Daß sich die wunderschönen, lieblichen, anmutigen Elfen mit mir trampeligem, häßlichen, komischen Kind abgaben, versetzte mich immer wieder in Staunen, aber es machte mich auch stolz.
Jedes Frühjahr dergleiche Kampf: ich wollte unbedingt die schlecht sitzende, ewig rutschende, kratzige Strumpfhose eintauschen gegen Kniestrümpfe. Das erste Mal Kniestrümpfe an haben nach einem langen kalten Winter und die frisch-milde Frühlingsluft an den Beinen zu spüren, bedeutete mir eine unvergleichliche Sensation, auf die ich mit Vorfreude ungeduldig wartete. „Esis dochers Märchz! Esis eiskalt! Kuckmada, wiech friere!“ schrie meine Mutter wie jedes Jahr. Vor meinem geistigen Auge hatte ich das Bild eines gleichaltrigen, doch recht großen, auffallend blaßhäutigen Mädchens mit beinahe schwarzem Haar, stets zu akkuraten „Affenschaukeln“ frisiert, das an steifen, auffallend unsportlichen, staksigen schneeweißen Beinen bei fast jedem Wetter Kniestrümpfe mit Rautenmuster zu dunkel karierten Faltenröcken anhat. „Aber es ist doch gar nicht kalt, es ist so schön warm! Außerdem darf das Gabi Baum das ganze Jahr über Kniestrümpfe tragen, wie es das will! Dem seine Mutter verbietetem das nich!“ schrie ich zurück, „Das Gabi Baum hat ja auch nur ne Mutter, und keinen Vater! Außerdem denkn de Leute sonz, wer kümmern uns nich richtich um dich, wemwer dir sowas erlaum!“ schrie meine Mutter zurück, als ob das ein passendes Argument sei, und ich wurde fast verrückt, weil dieses Gefühl, wenn mir der knielange Rock um die bis auf die Kniestrümpfe ansonsten nackten Beine schwang und ich jeden Windhauch, auch den ganz zarten, sachten, auf meiner Haut wie ein Streicheln empfand. Es war das Ende des Gefühls des Eingesperrt-seins in unbequeme, kratzige „Wickel“, wollene Fesseln und widerliche Bandagen. Freiheit für meine Beine! Jahrelang waren meine Knie bedeckt von alten und neu hinzugekommenen Abschürfungskrusten, die ich allzu gerne abknibbelte, wenn sie im Endstadium der Heilung juckten. Abgesehen von den geliebten Kniestrümpfen war ich verrückt nach schneeweißen, völlig glatten Strumpfhosen, die ich allerdings nie bekam, weil meiner Mutter die glatten nicht gefielen, sie bevorzugte die mit ausgeprägter Streifenstruktur. Überhaupt hatten weder ich noch meine beiden jüngeren Geschwister ein Wörtchen mitzureden bei der Kleiderwahl. Allein meine Mutter bestimmte, welche Klamotten gekauft wurden. Dabei achtete sie streng auf gewisse Marken bzw. auf die Anziehgewohnheiten der Oberschicht. Ich sehe sie vor mir, wie sie augenverdrehend andächtig-schwärmerisch den Namen „Hummelsheim“ ausspricht und lebhaft mit Händen und Füßen versucht, Interesse bei mir zu wecken: „ Neee – wasn Mäntelchen, ooooh1 hasse sowwas schönes schomma gesehn! Mein Gott! Oooooh!“ Ich hatte einen ganz anderen Geschmack, ich hätte so gerne eine „Blue Jeans“ gehabt, doch meinte meine Mutter mit Verachtung in der Stimme, das seien „Arbeiterhosen“. Ich mußte nicht selten Kleider anziehen, von denen ich manche richtig haßte. Bei weitem das übelste Stück war ein scheußlicher graugrüner Lodenmantel, mit weit geschnittenem, abstehendem Rücken, viel zu kurzen und zu weiten Ärmeln und mir an Hals, Ohrläppchen und Unterkieferknochen schmerzenden, viel zu engen Stehkragen. Den bekam ich, als ich sieben Jahre alt war. Üblich bei dieser mir bis heute verhaßten Trachtenmode war das raue, schwere Material. Mein Hummelsheimprachtstück war so hart und steif, daß ich die Arme nicht richtig bewegen konnte und stets das Gefühl hatte, man habe den Mantel mitsamt des Bügels von der Garderobe genommen und mir angezogen. Mit hochgezogenen Schultern und angehobenen, leicht angewinkelten Armen mußte ich sonntags in dem fürchterlichen Kleidungsstück in die Kirche gehen. „Das ist ein echter Hummelsheim-Mantel!“ schrie ich wütend der spöttisch kichernden Kinder-Meute zu und vermochte meinen Tränenstrom nicht zu kontrollieren, was mich erst recht zur Weißglut trieb. Weil ich wegen seines Gewichts den Mantel nicht hochbekam, um ihn aufzuhängen, stellte ich das harte, steife Ungetüm einfach in einer freien Ecke auf den Fußboden, wo es aufrecht stehen blieb, ohne auch nur ein einziges Zentimeterchen zu verknicken. Wieviele wütende Tränen der Demütigung habe ich wegen dem beschissenen Lodenmantel vergossen, wieviele zornige Kämpfe vergeblich gefochten, wieviele Beleidigungen mit zusammengebissenen Zähnen ertragen müssen. Ich wünschte mir sehnlichst, den Mut aufzubringen, den Mantel einfach nicht mehr an zu ziehen. Doch ich war kein mutiges Mädchen, ich war ein verzweifeltes, unsicheres, verwirrtes Kind, das so gerne stark, tapfer, selbstsicher und, ja, auch ein kleines bißchen frech gewesen wäre. Erst nach vielen Monaten und durchweinten Nächten brachte ich es fertig, mich offen gegen den Mantel zu entscheiden. Wie verzagt, wie ängstlich ich im Herzen war, das wußte niemand. Zitternd sagte ich : „Nein. Ich ziehe den Mantel nicht an.“ Sofort donnerte es über mir, Blitze und heftige Regenschauer peitschten auf mich herab. Wie kann ein Mensch sowas aushalten, fragte ich mich voller Furcht, und war überzeugt, die Liebe und Zuwendung meiner Mutter endgültig verloren zu haben. „Son schönes Mäntelchen, echt Hummelsheim, andere Kinder wärn froh, son schönen Lodenmantel zu ham, nur du bis undankbar, wie immer, du has was in dir, das hätte ich nich gewaacht, mich meinen Eltern gegenüber so zu benehmen,“ kreischte meine Mutter, während sie mich in den Mantel prügelte, „ du bist so ganz anders, als andere Kinder, das Barbara Tierbach, das würde nicht wagen, so frech zu sein, das wäre glücklich, wennes son schönen Hummelsheim-Mantel hätte!“ Mütter haben überhaut keine Ahnung von ihren Kindern, dachte ich mal wieder, denn wieso stand das Barbara Tierbach immer auf der Seite derer, die mich auslachten, wenn ich in dem zeltartigen Ungetüm von Hummelsheim an kam! Was ich daraus lernte: der niedliche, vielversprechende Markenname, der netten, brummelnden Hummeln ein Heim verhieß, war das einzig Verlockende an der Sache. Namen können nicht nur betören, sondern auch schmerzlich enttäuschen. Mit acht, in den Sommerferien, fuhren wir im VW-Käfer, unserem ersten Auto, durch den Odenwald und spazierten durch Michelstadt. Meine Mutter erblickte mit ihren immer wachen Adleraugen und Kennermiene ein Schuhgeschäftschaufenster in der Julisonne blitzen. Hoch erfreut entdeckte ich die schönsten schwarzen Lackschuhe, die ich bisher gesehen hatte. Natürlich bekam ich nicht die, sondern die deutlich herabgesetzten roten daneben. Warum sie beinahe geschenkt waren: ein Exemplar hatten sie wochenlang im Schaufenster gehabt. Ich wurde gezwungen, einen dunkel-Süßkirschroten und einen von der Sonne ausgebleichten fast paprika-orangenen Schuh zu tragen. „Was fürn Schühchen! Stelldich nich so an, den Unterschied sieht doch kein Mensch, so pingelich sind wer nich, kuckmada, nee, was fürn schönes Schühchen! Oooooooh!“

Dienstag, 4. Mai 2010

Ohne links und rechts zu kucken rannte ich mit zwei neuen leeren Zigarrenkisten über die Fahrbahn, als mich eine kreischende Omastimme zusammenfahren ließ: „Dasis veboten! Du biss ohne zu kucken übba de Strasse gerannt, dafür kommt man ins Gefängnis, wachte ma, wenn de Bollizei dich sieht, dann kannze waserlebn!“ Ich blickte mich nicht um sondern nahm die Beine in die Hand und rannte, was ich konnte angsterfüllt auf das auf der anderen Strassenseite zu, mraste die Treppe hoch und versteckte mich mit bis zum Hals klopfenden Herzen im Wäschekorb. An diesem Tag begann meine lebenslang anhaltende panische Furcht vor Bullen, und außerdem lernte ich in frühen Kindertagen die Lust mancher Mitmenschen am Denunzieren kennen. Die noch den Duft irhres früheren Inhaltes verströmenden Zigarrenkisten füllte ich mit meiner Sammlung Lackbilder, manche sagten „Glanzbilder“ dazu. Am liebsten waren mir die mit silbernem Glitter verzierten, sie waren jahrelang Teil meines Schatzes, ebenso, wie meine Glasknicker. In anderen Gegenden sagten sie dazu „Murmeln“. Angefangen hatte ich mit einigen billigen „Tonern“; wie der Name sagt, aus Ton gefertigt und bemalt mit billigen Farben, die bei Feuchtigkeit abfärbten. Mit dem Rot eines „Toners“ schminkte ich mir mit vier zum ersten Mal die Lippen rot. Als ich aber mit rosa lackierten Fingernägeln nach Hause kam, gab es ernthaft Ärger. Kleine Mädchen meines Alters hatten sich gefälligst ruhig zu verhalten und sich nicht zu schminken! Aus den blöden Tonern wurden nach wenigen Spielen dann „Glaser“; endlich besaß ich auch ein paar der schönen Glaskugeln mit den bunten, psychedelischen Mustern im Innern, auf die ich völlig verrückt war und die ich beim Spiel anderen Kindern abluchste, das war die allgemeine Bezeichnung für Gewinnen. Meine Mutter nähte mir zwei Beutel aus Stoff für meine Glaser. Alte Pralinenchachteln dienten als Aufbewahrung für alle möglichen bunten Papierschnitzel, wobei mir bei weitem am allerschönsten die in kreischenden Farben gehaltenen Folien von Eiskonfekt vorkam. Ich liebte nicht nur den schokoladigen schmelzenden Inhalt der raffiniert zu kleinen Bechern gefalteten Folien, sondern die Verpackung als solches, die ich sorgfältig auseinande zog, mit der Zungenspitze sauber ableckte und mit schweren Büchern zu einem Rund plattdrückte. Besonders das Türkis und das Cyclam-Pink entzückte mich über die Maßen, stundenlang spielte ich damit im Sonnenlicht und erfreute mich nur am Leuchten der klaren Farben. Was mich sonst noch seit ich denken kann verzauberte: Blumen, Kieselsteine, Vogelfedern, fein bestickte Taschentücher, Parfums, Schuhe, insbesondere Lackschuhe, fremdartig aussehende Menschen, und lange Haare. Bedauerlicherweise schnitten sie mir mit fünf meine langen honigblonden Zöpfe zu einer modischen Kurzhaarfrisur, weil meine Mutter meinte, das sei praktischer. Als ich dann später noch eine Zahnklammer oben und unten und meine erste Brille bekam, fühlte ich mich vollends häßlich. Manchmal verbrachte ich ganze Nachmittage in einer Wiese, mit einer Mütze auf dem Kopf, unter die ich mir aus ausgerupftem Gras geflochtene Zöpfe steckte.

Freitag, 30. April 2010

Hatte ich erwähnt, daß ich die kleine Türkin immer „Ischla“ nannte? Anfangs hatte ich den Namen so verstanden; das „L“ am Ende hatte ich irgendwie nicht mitgekriegt, und als mich das Christel Stolzenberg, die schon die ganze Zeit scharf auf eine Freundschaft mit der Türkin war und nichts unversucht ließ, sie mir auszuspannen, vor der ganzen Klasse mit wichtiger Miene herablassend verbesserte: „...du kannst ja nicht mal seinen Namen richtig sagen – es heißt Ischlal, mit einem „L“ am Ende!“ In unserer Gegend bezeichneten die Sauerländer schon immer ein Mädchen mit „Es“ und „Das“. Langsam aber sicher lief das Ischla über zum Christel, immer öfter spielten die beiden zusammen und liessen mich links liegen. Dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben, das Ischla zu beeindrucken, ich hatte es mit schönen Geschenken überschüttet, um ihr meine Zuneigung zu beweisen. Um keinen Preis wollte ich, daß sich das arme türkische Kind allein fühlte in einem fremden Land. Oft überlegte ich, wie ich mich an Ischlal’s Stelle fühlen würde und beschloß, sie mit deutscher Gastfreundschaft zu verwöhnen. Ich gebe zu, daß es im Grunde genommen ihre Schönheit war, durch die ich mich verführen ließ. Sofort hatte sie mir rein äußerlich gefallen, und dieses Gefallen nahm zu, je öfter und je näher ich sie betrachten konnte. Mein ganzes Leben lang werde ich magisch angezogen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen und Gegenständen, die ich als „schön“ empfinde. Dieses Spektrum wurde schon in ganz jungen Jahren erweitert und somit enorm bereichert durch alles, was der Schönheit genau entgegengesetzt, also häßlich, krankhaft, unnormal oder doch wenigstens fremd war. Zu der Zeit war ich noch nicht in der Lage, zu verstehen, daß andere Menschen ganz anders als ich empfinden, ich glaubte, jeder sähe die Welt durch dieselben Augen, wie ich. Ich beschenkte Ischla also mit meinen schönsten, kostbarsten Lackbildchen, welche ich in einer alten Pralinenchachtel aufbewahrte, bis meine Sammlung so umfangreich wurde, daß sie nicht mehr alle in die Schachtel paßten und ich mir eine größere, stabilere Zigarrenkiste besorgen wollte. Dazu mußte ich die Straße überqueren. Der Tabakwarenladen Bock lag genau gegenüber vom Haus meiner Großeltern, wo wir im oberen Stockwerk wohnten, bis die Bauarbeiten an unserem neuen Haus fertig waren. Der intensive Tabakgeruch in dem Geschäft überwältigte mich jedesmal, obwohl ich fast täglich meiner Oma ihre geliebten „Zehn Lord“ für eine Mark fünfzig kaufte. Mein Kopf war voller Gedanken und mein Herz erfüllt von Vorfreude.

Mittwoch, 28. April 2010

Die Schulzeit. Bei Fräulein Tröster im ersten Schuljahr: alles glatt. Am Ende des Schuljahrs hatte ich auf dem Zeugnis „Sehr gut“. Es gab nur eine einzige Note für alles. Ich lernte mit knirschenden Griffeln schreiben auf einer kleinen grauen holzgerahmten Schiefertafel, die mit einem nassen Schwämmchen ab gewaschen und mit einem von einer Tante oder so selbstgehäkelten Tafellappen trocken gewischt wurde. Die Tafellappen hingen seitlich an gehäkelten Schnuren aus dem Tornister heraus. Im ersten Schuljahr als I-Dötzchen durften wir nach vorne zum Lehrerpult kommen, und unsere neuen Kleider präsentieren, wenn wir welche bekamen. Fräulein Tröster war, wie ihr Name aussagt, nicht verheiratet, und zum Glück sehr kinderlieb. Im zweiten Schuljahr änderten sich die Dinge. Erstens: die erste türkische Familie zog in unseren Ort, und Türken hatte man bis dahin noch nicht gehabt. Ausländer gab es im Ausland, ausserhalb des Sauerlandes. Ein Schneider wohnte nun mit Frau, Tochter und Sohn im zweiten Stock neben der Drogerie Egel, genau gegenüber der Zahnarztpraxis meines Opas.
Mir gefiel das Mädchen auf Anhieb, ich fand sie wunderschön mit den dunklen Augen und den weich über die Schultern fallenden Locken. Sie kam in meine Klasse, aber ich hatte Ischlal als erste kennengelernt, ich hatte als erste, vor allen anderen Kindern, Kontakt mit dem Wesen aus der Fremde aufgenommen, und als sie in meine Klasse kam, konnte ich sie stolz, als hätte ich neue Schuhe, vorzuzeigen, den staunenden Mitschülerinnen präsentieren. Meine Freundin! Eifersüchtig schirmte ich Ischlal, die Hübsche, vor allen anderen Kindern ab. Kürzlich hatten meine Eltern fünfhundert Mark im Lotto gewonnnen, und wir bekamen unser erstes Fernsehgerät. Seit Tagen regnete es Bindfäden, so hockten Ischlal und ich nachmittags zur Kinderstunde „Basteln mit Erika“ vom Bayerischen Rundfunk im ersten und einzigen Programm vor dem Apparat. Die Zusammenstellung der einzelnen Sendungen steckte noch arg in den Kinderschuhen. Im Anschluß an „Basteln mit Erika“, wo wir praktisch nichts von verstanden, weil auch schon die kleinen Kinder so furchtbar bayerisch sprachen, atmeten wir auf. Es war geschafft. Diese Sendung fand ich immer tödlich langweilig und anstrengend, aber die Erwachsenen meinten, diese Sendung sei gut für die Entwicklung von Kindern, und weil sie ja auch immer stöhnten, dass sie so viel für uns täten, nahm ich es mit zusammengebissenen Zähnen auf mich, „Basteln mit Erika“ durchzustehen. Es war beinahe so, wie in der Sonntagsmesse in der Kirche. Da darf man auch nicht einfach mittendrin rausgehen, weil es einem zu langweilig wird. Nicht mal, wenn man aufs Klo muss. Kinder müssen lernen, sich zu beherrschen. „Basteln mit Erika“ war zu Ende. Nun wurde es interessant. Eine rundliche Tänzerin wiegte sich zu den klagenden Tönen einer orientalisch anmutenden Musik, zumindest stellte ich mir vor, dass sie in Orient, was immer auch dieses „Orient“ für ein fremdes Land war, solche Musik machten. Unvermittelt hörte ich, wie meine Mutter Ischlal gezielt ansprach und deutlich mehrere Worte in einer mir unbekannten Sprache sagte. Ischlal blickte überrascht auf, antwortete sofort in ihrer Sprache, und hörte nicht mehr auf. Zum ersten mal hörte ich zusammenhängende Sätze in einer fremden Sprache, melodiös, klangvoll, ungewohnt für mein Ohr, ich schloß halb die Augen, die Sprachmusik ergoß sich in mein aufnahmebereites Herz. Die neuen Laute, wohlgemerkt, die Laute, nicht die Worte, prägten sich mir ein. Und meine Mutter sah ich mit ganz neuen Augen. Später, als Ischlal gegangen war, wollte ich beeindruckt wissen, was meine Mutter da gesagt, und woher sie die Worte hatte. Sie hatte die einzigen türkischen Worte gesprochen, die sie kannte: Dicke Frau. Mir war das viel länger vorgekommen, als nur diese beiden Worte. Sie konnte sich nicht mehr entsinnen, bei welcher Gelegenheit sie die Worte gehört hatte. Lediglich diese beiden hatte sie behalten, und auch niemals vorher sich ihrer erinnert. Erst, als sie die Tänzerin im Fernsehen sah, kamen sie ihr wieder in den Sinn. Kurze Zeit später waren sie ihr wieder entfallen, und nach einigen Monaten hatte sie das Ereignis vollständig aus ihrem Gedächtnis verloren.

Dienstag, 27. April 2010

Mich interessierte weit mehr, was meine Puppen in ihrem Körperinneren hatten. Die dicke Hummel fliegt auf den Kinderwagen zu und verschwindet unter dem faltigen, halb heruntergezogenen Verdeck, und zwei Sekunden später höre ich schlimmstes, panisches Geschrei. Die niedliche Hummel macht Geräusche, wie ein Minihubschrauber, versucht, den planlos herumfuchtelnden Patschhänden des ungeschickten, hysterisch brüllenden Wesens, von dem mir versichert wurde, es sei meine Schwester, unverletzt zu entkommen. Ich schob das Verdeck ein bißchen höher. Die Hummel konnte verschreckt, aber ohne Blessuren, entweichen. Vor mir lag ein hochrotes, schwer nach Luft ringendes, tränenüberströmtes, verzerrtes, sehr rundes Babygesicht. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen: die spärliche Kopfbehaarung weist ohne jeden Zweifel eine – rötliche? – Färbung auf. Mit einem leichten Schreck und verwirrt über diesen unschönen Anblick beschloss ich,… möglichst „wenig“ Schwester zu haben. Warum kann sie nicht, wie jedes andere Kind auch, mit der Hummel spielen! Dachte ich, starrte in die verzweigten, sich ganz leicht wiegenden Äste und das dichte Blattwerk der alten Linde vor dem Balkon, und fühlte die Wut aufsteigen. Zu den komplizierten Erwachsenen kam nun noch eine komplizierte, rötlichhaarige Schwester. Ich mußte aufs Klo, ging durch den langen Flur über den roten Sisalläufer und öffnete die Badezimmertür. Die Erwachsenen schlossen sich da immer selbst ein. Wütend drehte ich den Schlüssel herum. Nachdem mehrere Erwachsene zwei Stunden lang vergeblich versucht hatten, mich aus dem Badezimmer zu befreien (ich gab mir Mühe, ganz laut und furchtbar zu schreien) holten sie die Freiwillige Feuerwehr. Mit ziemlichem Aufwand fuhren sie aussen am Haus eine lange Leiter hoch, lehnten sie an der Fensterbank an, und unter lebensgefährlichem Schwanken kletterten zwei Feuerwehrleute unter ermutigenden Zurufen der umstehenden Menschenmenge, die sich den Anblick eines abstürzenden Feuerwehrmannes nicht entgehen lassen wollte, bis zu unserem Badezimmerfenster hoch. Es gab damals kein Fernsehen. Der Feurwehrmann öffnete das Fenster entschlossen, indem er es einschlug ( das klirrende Glas erschreckte mich zu Tode) und kletterte über die Brüstung, gefolgt von einem Kollegen. Er erblickte ein wie am Spiess brüllendes kleines zweieinhalbjähriges Mädchen, auf dem Klo sitzend, mit schlenkernden Beinchen, bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Die Freiwillige Feuerwehr übte regelmäßig das Retten von erwachsenen Menschen, und solchen, die es noch nicht waren, und allerlei Getier. Mit einem tollkühnen Satz hechtete der Feuerwehrmann in meine Richtung und packte mich bei den dünnen, honigblonden Zöpfchen, gerade, als ich Begriff war, entkräftet loszulassen und ins relativ geräumige Klo zu plumpsen. Vor der Tür im Flur schrien die erwachsenen Menschen entsetzt auf. Dann hörte ich ein dumpfes Krachen, als der Feuerwehrmann, unter dessen Arm ich steckte, mit einem einzigen, wuchtigen Tritt seiner Feuerwehrstiefel die Badezimmetür aufbekam. Aufgeregt wurde ich umzingelt, von allen betastet und besichtigt und als festgestellt wurde, das nur Popo und Stimmbänder arg strapaziert, der Rest von mir aber soweit in Ordnung war, defilierten sie einzeln an mir vorüber, mit strengem Blick, erhobenem Zeigefinger und der Ermahnung, sowas ja nie wieder zu tun: „Du Unart, du! Nicht wieder tun!“ Dann wurde ich zur Strafe am hellichten Tag ins Bett gesteckt.

Montag, 26. April 2010

Das änderte sich, als ich zwei Jahre alt war und die Vorstellungen im Wald vor den imponierten Bekannten meines Vaters korrekt absolvierte. Schnell sprach sich herum, was für ein begabtes Kind ich sei. Um das Ganze aber noch ein bißchen zu würzen, brachte mein Vater mir bei, einen Pilz zu identifizieren, während ich an seinen hingehaltenen starken Armen eine Rolle machte. Turnen machte mir später als Junkie noch Spaß, nur mußte ich dann so oft schlimm kotzen, darum entwickelte sich mein Bewegungsdrang im Laufe der Jahre auf den einer Sumpfschildkröte zurück. Nach einmal paarmal üben meinte mein Vater, nun wäre ich fit, umwanderte den nächsten Berg mit mir, sammelte nur noch die seltensten, schönsten und interessantesten Exemplare, und hielt, ein bißchen nervös, Ausschau nach Publikum. Der durchschnittliche Zentraleuropäer hat das Wandern im Blut, und so mußten wir auch nicht lange auf Zuschauer warten. Es war ein sehr angenehmes Leben für mich in dieser Zeit, ich machte einen Überschlag, oder auch mehrere, an den Armen meines Vaters, bekam irgendeinen Pilz von irgendjemand vorgehalten, redete mit dem Kopf nach unten hängend lateinisch und erhielt die verdiente Belohnung. Dann lernte ich meine jüngere Schwester, das mittlere Kind kennen, und war vom ersten Moment an negativ beindruckt. Auf dem schmalen Balkon im zweiten Stockwerk, gegenüber der Tanzschule, stand ein rundlich geformter Kinderwagen. Türkisgrün, mit zugezogenem Verdeck und riesigen, silbern glänzenden Schutzblechen über prall aufgeblasenen kleinen weißen Reifen. Darüber strahlender, tiefblauer Spätaugusthimmel, in voller, duftender Pracht, Verschwendung pur. Geschäftig brummelnde und summelnde Käfer, Bienen, Wespen und auch ein schöne, pelzige Hummel in betrunkenem Flug über den Balkon in luftiger Höhe. Warm ist es, angenehm, keine starke Hitze. Die dicke Hummel kreuzt meinen Weg. Da steht der Kinderwagen mit meiner neuen Schwester. Auf einmal war sie da gewesen, nie bemerkte ich bei meiner Mutter irgendeine Veränderung in der Zeit ihrer Trächtigkeit, weder körperlich noch in anderen Bereichen. Auch nicht, als ich plötzlich gesagt bekam, wir haben jetzt noch einen Bruder, einige Jahre später. Meine Mutter hatte eines Tages einfach ein paar Kinder mehr. Damals machte ich mir keinerlei Gedanken, wo all diese Kinder auf einmal herkommen könnten. Sie waren eben plötzlich da – und damit hatte es sich.

Sonntag, 25. April 2010

Es war abzusehen, dass der Opa es nicht mehr lange machen würde, und so erhielt er besonders starke Schmerzmittel, auch Opiate. Weil er sein Rezept verloren hatte, begann er, in der Apotheke zu randalieren. Es war nichts zu machen, der Opa bekam sein Zeug nicht. „Dann bleibe ich hier in alle Ewigkeit sitzen!“ drohte er. In seiner Verzweiflung rief der Apotheker meinen Vater, er solle sofort seinen Schwiegervater aus dem Laden holen. Weder gutes Zureden, noch Appelle an Opas vernebelte Vernunft wirkten. Schließlich gelang es meinem Vater, ihn zu überlisten. Er verließ kurz die Apotheke, um sie erneut in einer völlig anderen Art zu betreten. Mit dröhnenden, weitausholenden Schritte, geschwellter Brust und einer Schützenfestkappe auf dem Kopf, polterte er zum Opa, baute sich dick und fett und wichtig vor ihm auf, riß den Arm hoch und gröhlte mit laut mit rauher Stimme einen Militärgruß. Prompt stand der Opa stramm, ebenfalls den Arm hochgeschleudert, den Gruß brüllend, den Spazierstock als Gewehr geschultert und folgte mit zackigem Stechschritt meinem Vater unverzüglich aus der Apotheke. Fünf Jahre später brachen wir in diese Apotheke ein. Wir hatten auch kein Rezept gehabt.
Als es mit dem Opa immer schlimmer wurde und niemand ihn mehr zu zähmen vermochte, verfrachtete man ihn unter Wehgeheul nach Niedermarsberg ins Irrenhaus. Am folgenden Samstag fand sich eine lange Schlange Absolutionssuchender in der katholischen Kirche ein. Massive Gewissensbisse aufgrund der Erleichterungsgefühle beim Abtransport des kleinen Opas (der ausgerechnet bei dieser Gelegenheit zu seiner früheren Freundlichkeit, Förmlichkeit und Umgänglichkeit zurückgefunden und sich von allen noch artig verabschiedet hatte) brachte inakzeptable Schlafstörungen wegen beißender Gewissensqualen über die halbe Einwohnerschaft.
Anfang der Woche gelang dem kleinen Opa die Flucht aus der Anstalt und er wurde nach Hause gebracht. Man hatte ihn ohne Fahrkarte im Zug aufgegriffen. Wenige Tage später war er tot.
Die geheime Beziehung zu meinem Vater empfand ich immer als etwas Besonderes. Dass mein Bruder dieses Gefühl ebenfalls hegte, und hinter meinem Rücken versuchte, meinen Vater auf seine Seite zu ziehen, begriff ich instinktiv aus Angst vor Verlust. Ich war das erste Kind meiner Eltern, mein Bruder mit dem hochtrabenden Namen Karl Martell das letzte. In der Mitte war meine Schwester Henrike. Mit forschreitendem Alter entwickelte mein Vater ein schlechtes Gewissen, er glaubte, mit dem mittleren Kind nicht solche Heimlichkeiten gehabt zu haben, wie das bei meinem Bruder und mir der Fall gewesen war: die Exklusivität der Beziehung brachte mich manchmal um den Verstand, so stolz war ich darauf, und eifersüchtig hütete ich „unser“ Geheimnis. Es begann damit, dass ich mit eineinhalb Jahren eine Begabung für das Sprechen zeigte. Ohne Babyakzent nachplappern konnte ich ausgezeichnet, und so wurde ich, für sprachbegabt gehalten, in einem streng-liebevollen Privatkurs für die lateinischen Bezeichnungen der heimischen Pilzwelt interessiert. Trafen wir zufällig im Wald Bekannte meines Vaters, - es gab niemanden, den er nicht kannte als Studienrat des einzigen neusprachlich orientierten Gymnasiums für Jungen im Umkreis von dreißig Kilometern, - erhielt ich ein Stück Schokolade, wenn ich einen nach Erde und Wald duftenden Pilz mit seiner korrekten lateinischen Bezeichnung zu benennen wußte. Geschmeichelt und scharfgemacht nach Schokolade lernte ich möglichst schnell möglichst viel auf diesem Gebiet. Wenige Wochen später kannte ich sämtliche Pilze auf lateinisch und deutsch, welche waren giftig, ungenießbar, genießbar, welche galten als 1-A-Speisepilze für die Höhere Kochkunst eingeweihter Gaumen, und welche Standorte bevorzugten die Gewächse zu welcher Jahreszeit bei welcher Niederschlagsmenge. Je detaillierter meine Antwort, desto leckerer und größer die Belohnung. Manchmal gab’s eine Umarmung, ein Streicheln, ein Händedruck, ein Küßchen. Wenn dann noch die Zauberworte „Papa’s Mädchen bist du!“ gesprochen wurden, war ich selig. Bevor ich die Pilznamen lernte, war ich „Unart“. Ich wußte nicht genau, was unartig war, nur soviel: wenn ich es war, wurde ich nicht gelobt, nicht in den Arm genommen, nicht so beachtet, wie ich es mir wünschte. Tat ich etwas, das das Mißfallen meiner Eltern erregte, sagten sie in barschem Ton mit gerunzelter Stirn im unfreundichen Gesicht, den drohend Zeigefinger erhoben, von oben auf mich herab: „Du Un-Art, du! Nicht tun! Unart bist du!“ Das sagten sie so oft zu mir, dass ich glaubte, dies sei mein Name. „Wie heißt du denn, Kleine?“ „Unnat!“

Samstag, 24. April 2010

Jedes Jahr zur gleichen Zeit wird seit einer spätmittelalterlichen Brandkatastrophe zur Zeit des Ablaßbriefhandels die Heilige Agatha mit einer Lichterprozession durch die Straßen der Stadt geehrt. Man dankt ihr, zeigt Respekt, singt fromme Gesänge mit der selben Inbrunst, wie die Sizilianer, und hält eine blutrote Laterne, dem furchtbaren Martyrium der Heiligen eingedenk. Außer der Heiligen Agatha verehrt man den Sankt Martin und an Fronleichnam und zu anderen Gelegenheiten werden Prozessionen veranstaltet. Ich erinnere mich, wie ich, geschüttelt von Schauern der Inbrunst, bei Wind und Wetter, Hagelsturm oder Gluthitze bei nächtlicher Dunkelheit und gleißend hellem Sommertag als Teil solcher Prozessionen zu Ehren verschiedenster Anlässe, mit klebrigen Händen Blumen, eine leuchtend rote Papierlaterne oder eine mit meiner ungeschickten Kinderhand ausgehöhlte, mit groben, ungeübten Schnitzereien verzierte Runkelrübe an einen Stock umklammernd, tief gläubig fromme Gesänge mitsang, in der Hoffnung, meine flehenden Gebete, mein Bitten um Schulderlaß mögen vom Lieben Gott erhört werden. Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, hieß es. Meistens schlief ich schlecht.
Zweifellos nahm der Zahnarzt den Glauben ungleich ernster, als seine Emma, die für Tiefgläubigkeit schlichtweg zu großzügig war. Entsprechend frei legte sie die Schriften aus, Anlaß für lästiges Gerede und undurchsichtige Gerüchte in der kleinen Stadt. Dieses Gemunkel hielt sich nur deshalb in Grenzen, weil der Zahnarzt für offene Angriffe und lustvolle Lästereien ein zu wichtiger, zu angesehener Mann im Ort war.
Keine Ahnung, unter welchen Umständen sich so ein ungleiches Paar zusammen finden konnte. Erst mit dem Tod erhielten sie eine Chance zum Entrinnen. Ein gläubiger Katholik betrachtet die Scheidung als Sünde, und jede Sünde verringert die Aussicht auf die Herrlichkeit. Bekanntermaßen erhält derjenige im Himmel seinen verdienten Lohn, wer auf Erden so viel, wie möglich, gelitten hat, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung größter Frömmigkeit. Zweifel ist auch eine Sünde... Augen zu - und durch, - so lebt der aufrechte Katholik.

Donnerstag, 22. April 2010

„ Erstaunlich. In ein paar Jahren wirst du wieder gehen können. Es war nicht nötig, sie zu amputieren.“ Was hatten sie denn dann amputiert? „Was haben sie denn dann amputiert?“ Onkel Willi krächzte vor Anstrengung, er hatte all seinen Mut zusammengenommen für diese Frage und war sehr darum bemüht, seinem Tonfall Gleichgültigkeit zu verleihen. Schweigen. Dann räusperte sich die Stimme, und Onkel Willi wurde noch schwindeliger, denn er merkte sofort die kleinen Wackler in der Aussprache, die sich um Fassung bemühte. „Äh,…nun…es war erforderlich,..ahem, ..einen Hoden..zu entfernen, Kamerad. Du wirst dein drittes Bein nie wieder einsetzen können, Kumpel. Wirklich, einen Schutzengel hast du…-“ Die Stimme sprach noch ein bißchen weiter, doch das bekam Onkel Willi nicht mehr mit. Übermannt von Angst ließ sich einfach fallen, indem er die Augen schloß und sich von dem feinverzweigten, roten Fädchennetz vor rosa-beigen Hintergrund faszinieren ließ. Im Mittelpunkt des Pulsierens verdichteten sich die Farbstrudel zu einem zittrigen Bild, das deutlich Form gewann. Überzeugend gab Onkel Willi wieder, wie er seine Frau Mariechen mit dem pausbäckigen erstgeborenen Sohn Gottfried auf dem Arm vor sich sah. Das Baby besass herzige Grübchen auf den dicken Fäustchen, die eine Schnur mit einem sonnengelben Luftballon dran umklammerten. Sie sahen so – gesund aus. Niemand anderes hatte Willi je so herzlich angelacht, so angestrahlt, und sie winkten ihm zu. Sie strahlten und winkten immer noch, als der Sonnenball unvermittelt heftig platzte, so laut, dass Willi auf seinem harten Lager zusammenzuckte. Dann verschimmerte die Vision als letzte Sonnenstrahlen auf unruhigem Wasser. Willi versuchte, ihnen nachzuwinken, bevor sie vollkommen verschwanden. Dass es ihm gelang, tröstete ihn ein wenig, und trotz seiner Furcht fiel er in tiefen und heilsamen Schlaf. Onkel Willi war ein lebhafter Erzähler, er liebte es, wenn wir alle um ihn herum versammelt da saßen und die Ohren spitzten.
Onkel Willi wurde für kriegsuntauglich erklärt. Man päppelte ihn hoch, bis er sich wieder so weit erholt hatte, um die lange, unsichere Heimreise anzutreten. Wir konnten gut nachempfinden, wie froh unser Onkel Willi gewesen sein muß. Im späten Vorfrühling, die Amseln und Singdrosseln zwitscherten schon munter als Begrüßungskommando, schloss Willi seine Frau und seinen kleinen Sohn vor dem lustigen Haus in die Arme. Sein Schutzengel nahm sich Willis noch einmal mit besonderer Zuneigung und Sorgfalt an. Im Spätsommer konnte Willi nicht nur wieder gehen, nein, auch sein Sohn würde nicht das einzige Kind bleiben. Mariechen war schwanger mit dem zweiten Kind. Sie fühlten sich wirklich gesegnet.
Irgendwann als kleines Mädchen erfuhr ich, dass sie gar keine richtigen Christen waren. Sie waren evangelisch. Das war so wie heidnisch. Ich brauchte Zeit, um den Schreck zu verdauen. Ich fing an, mich zu fragen, ob die Dinge so sind, wie man es mir beigebracht hatte, dass sie sind.
Von den mich umgebenden Erwachsenen hatte ich zu zweien eine tiefere Beziehung: zu meinem Vater und zu meiner Oma. Die pummelige Mutter meiner schlanken Mutter hatte was rebellisches an sich. Sie fühlte sich hingezogen zum Fahrenden Volk, das ist nicht normal..sie war unordentlich bis zur Schlampigkeit, es kam auch vor, dass sie sich nicht um Konventionen scherte, ganz im krassen Gegensatz zu ihrem Ehemann, dem Zahnarzt. Meine Oma liebte ich wegen dieser Rebellenader und ich begriff erst viel später, dass es sich nur um eine der zahlreichen Ausprägungen ihrer Großzügigkeit handelte. Für die beiden muß ihre Ehe die Hölle gewesen sein. Irgendwann fingen sie an, Freude daran zu empfinden, sich gegenseitig zu demütigen. Bösartig versteckte die Oma die Serviettenringe, die für den Mittagstisch vorgesehen waren, erfreute sich an der Wut hinter seinen beherrschten Gesichtszügen, und hoffte auf eine Steigerung, indem er die Beherrschung verlieren möge vor Dienstmädchen und Kindern. Zu ihrer Enttäuschung hatte er sich im Griff und entglitt nicht eine Sekunde. Täglich liess sie sich andere Streiche einfallen, um sich daran zu ergötzen, wenn er die Fassung verlöre.

Mittwoch, 21. April 2010

Während er schrie spürte er, wie er festgehalten wurde, obwohl er sich wehrte mit Fäusten und Füßen, ohne aufzuhören mit überschnappender Stimme Willis Namen brüllend, wurde er nicht losgelassen. Das machte den Feind erst recht auf die bisher einigermaßen gut versteckte Gruppe aufmerksam, und als Onkel Willi in seinem festgefrorenen Blut zwanzig Minuten später zu sich kam, waren alle in dem Graben in Fetzen geschossen. Niemand überlebte außer Pnkel Willi. Er erwachte im Lazarett. Ganz vorsichtig öffnete er die Augen, hübsch langsam, eins nach dem anderen. Er war auf ein schmales, reichlich unbequemes Feldbett geschnallt. Seine Augen wanderten zu einem Wald aus galgenähnlichen, boshaft aussehenden Gestellen. Wie die Raubmörder hingen daran mit dem Kopf nach unten baumelnde Flaschen, von denen zahlreiche Schläuche ein unübersichtliches Durcheinander bildeten, sich verzweigten und in Kanülen endeten, die in seinen Armen und in seinen Handrücken steckten. In den Flaschen blubberten leise Blasen verschieden schnell, um lebensrettende pharmazeutische Erzeugnisse in das Innere seines Körpers zu befördern oder schlimme Absonderungen und natürliche Ausscheidungen aus ihm heraus zu saugen. Onkel Willi machte die Geräusche nach, es hörte sich schrecklich an. Wir Kinder hielten den Atem an dieser Stelle immer an vor Spannung. Weiter schweifte sein Blick, nach unten, Richtung Hüfte, Unterleib und Oberschenkel. Ihn schwindelte, als er ein zweites Schlauch-Konglomerat, bei weitem an Form, Farbe, Größe und Chaos dem ersten überlegen, gefährlich nahe an…an seinem… an seinen Oberschenkeln entdecken mußte.
„Sowas nenn ich Schutzengel!“ Onkel Willi vernahm eine heitere Stimme irgendwo über seinem rechten Handgelenk, fühlte, wie sich jemand daran zu schaffen machte. „Ein Wunder, wenn ich mir mal erlauben darf, das zu sagen, Kamerad, bei dem enormen Blutverlust und so.“
Es erstaunte ihn, dass es so schmerzte. Dass ein kleiner Piekser so weh tun konnte. Seinen aufgerissenen, ausgetrockneten Lippen entrang sich ein gepresstes: „Oh!“ Angst überfiel ihn, als er bemerkte, ab dem Bauchnabel nichts zu spüren. Die Stimme versuchte, beruhigend zu klingen.

Dienstag, 20. April 2010

Nach einer Stunde Mittagsruhe, begleitet von lauten Pianoklängen, machten sich Onkel Willi und Gottfried wieder auf zur Arbeit. Der zweite Sohn Gottlieb war der Künstler in der Familie, er hatte vor kurzem Jazz entdeckt. Niemand störte sich an seinen musikalischen Ausbrüchen, wenn er inspiriert war. Er haute und trat derart in die Tasten des alten Klaviers, dass sich das Haus vor Freude bog . „Aber das Klavier ist doch gar nicht richtig gestimmt!“ bemerkte Uta, die jüngere Schwester. „Das muß so sein, das ist eben Free Jazz!“ warf der kleine Friedemann ein. Je, nachdem, wie das Wetter war, drückten Onkel Willi die Einschussnarben. Vor Stalingrad hatte er eine besonders moderne russische Munition von höchst durchschlagender Wirkung durch die Oberschenkel abbekommen. Auf Bitten der Kinder erzählte er die Geschichte immer sehr spannend. Das Geschoss erwischte ihn, gerade, als er den rettenden Graben ausgemacht hatte und, hoffnungsvoll, seine Frau vor Augen, mit aller verbliebener Kraft auf die rettende Deckung zurannte. Es lag einfach zuviel Schnee, um solch eine Aktion erfolgreich abzuschliessen. Kurz vor dem gut getarnten Graben, in dem sich Kameraden, ihn anfeuernd, ihm Mut zu schreiend, verborgen hielten, so gut es ging, durchschlug eine hinterhältig abgefeuerte russische Kugel den einen Oberschenkel, trat aus ihm heraus, durchschlug einen Hoden, traf auf den zweiten Oberschenkel und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Zwei Meter vor dem Graben ging Willi unter Schock mit einem harten Aufprall zu Boden. Noch im Fallen dachte er „ Mist, verfluchter! Mich hat’s wirklich erwischt, Teufel nochmal! Ich werde impotent und tot aus dem Krieg nach Hause zurückkehren! Mist, verfluchter!“ Es war das erste und einzige Mal, dass Willi fluchte. Wir wußten weder, was impotent bedeutete, noch konnten wir uns unter dem Tod wirklich etwas vorstellen, außer, daß man dann still und starr da lag, ohne zu antworten, wenn man angesprochen wurde. Wir waren noch kleine Kinder, das Leben lag vor uns, und über den Tod kursierten in unserer Familie nur vage Gerüchte. Der Schnee wurde immer röter, Onkel Willi machte es mit den Armen vor, immer weiter kreiste sich eine Pfütze aus. Nach mehr als eineinhalb Metern Durchmesser sah Onkel Willi im Gesicht so blass, so unlebendig aus, dass der ihm am nächsten liegende Kamerad vor Kummer und Schmerz halb aus dem Graben herauskam, laut zu weinen anfing und nicht mehr aufhörte: „Williiii!Williii! Williii! Williii! Williii! Williii! Williii!“

Montag, 19. April 2010

Der jüngste Bruder meines Vaters hieß Willi, den hatte ich am liebsten. Er war ein gottesfürchtiger und waghalsiger Motorrollerfahrer. Mit seiner Kinderschar und der mütterlich wirkenden Mariechen hatte er ein
zweistöckiges altmodisches Haus mit drei verschiedenen Verandas, Garten und mehren Balkonen gemietet. Sehr geräumig war es nicht, aber so merkwürdig gebaut, dass ich als kleines Mädchen den Eindruck hatte, mich in einem Labyrinth ähnlichen Palast zu befinden. Ein undurchsichtiges System zahlreicher Türen, Treppen, Flure, Erker, falscher Gewölbe und echter Türmchen verwirrte und verzauberte mich gleichermaßen: das Haus war ein Wagnis. Es schien lebendig, atmend, pulsierend, und manchmal wiegte es sich zum Rhythmus des Windes, der im Garten an den zwei Obstbäumen zerrte. Es kam sogar vor, dass ich glaubte, das alte Gebäude verfüge über die Fähigkeit des Lachens. Jedenfalls hatte das Haus Humor. Wenngleich merkwürdig, war es nicht unheimlich. Es glich einer netten, freundlichen, zu Späßchen aufgelegten Oma, noch rüstig, bereit zu harmlosem Schabernack, von Zeit zu Zeit seufzend in Erinnerung versunken, ohne es selbst zu bemerken, bis sie sich wieder bewegte, und sie auf einer Woge von Lebenswillen surfte. Auch wenn surfen zu der Zeit noch nicht verbreitet war im Detmolder Raum. Onkel Willi und Tante Mariechen waren nicht mit körperlicher Schönheit gesegnet. Dass sie sich dennoch auf eine bestimmte Art „bevorzugt“ fühlten, verdankten sie derselben Frömmigkeit, von der auch ihre Kinderschar herrührte. Vor jeder Mahlzeit wurde mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen gebetet, vor allem den Text „Gott Dir in die Hände sei Anfang und Ende sei alles gelegt“ hatte ich mir eingeprägt. Zum gemeinsamen Mittagessen kam Onkel Willi, Prokurist für eine Versicherung, nach Hause in die Wälderstrasse, wo jeden Tag ein anderes Familienmitglied ein Kalenderblatt abriß, um das christliche Motto des Tages laut vorzulesen nach dem Essen. Man sagte dazu nichts, ein Kommentar war nicht erwünscht. Aufnehmen und handeln, darum ging es. Irgendwie waren sie so anders, als die Christen, die ich kannte. Zweifellos war da eine starke Tendenz zu Transzendenz und Urchristentum, reichlich gewagt also, das Ganze. Es erschien nur logisch das der älteste Sohn Gottfried ein Kommunist wurde, glühender Anhänger marxistischer Theorien, stets die Mao-Bibel parat haltend für passende Zitate. Er eröffnete die erste christlich-kommunistische Buchhandlung der Welt, von Marx-Mao-Lenin-Trotzki-Luxemburg-Che Guevara-Ho Tschi Minh-Thomas von Aquin-Schriften überquellend. Ich nahm ein Buch in die Hand. Der Autor hieß Martin Luther, Titel „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Da war ich immerhin schon dreizehn, und die Namen der Chefkommunisten der Welt waren mir durchaus geläufig. Einen Martin Luther kannte ich nicht. Vermutlich Argentinien, Uruguay, vielleicht auch Brasilien, da haben sie komische Namen, wie Carlos Habakuk Jesús Maria Raimundo. An dem Tag war Gottfried an der Reihe gewesen am Mittagstisch der Familie. Er erhob sich zu seinen ganzen iumposanten Zwei-Meter-und–vier, neben ihm wirkte Onkel Willi wie Toulouse-Lautrec. Mit tiefer, ruhiger Stimme las feierlich Gottfried vor: „Lebe immer, was du sagst.“ Bedeutungsvolle Pause. Die fünf Worte waren nicht zitiert, sondern vorgelesen. „Lebe immer, was du sagst.“ Stirnrunzelnd schaute ihn sein kleiner Vater an. Niemand sprach ein Wort. Man setzte sich, machte das Kreuzzeichen. Noch zwei, drei Augenblicke Stille, dann standen sie auf, rückten die Stühle, jeder brachte seinen Teller in die Küche, und den Rest räumte derjenige auf, der das Kalenderblatt vorgelesen hatte. Das taten sie immer so.

Sonntag, 18. April 2010

Als Kind habe ich oft an Ulrich gedacht. Von Hartmut habe ich das Weißbrot-Toasten in einer heißen Bratpfanne gelernt, als ich fünf war. Staunend, dass es funktioniert, knabberte ich meinen ersten, knusprigen Toast.
Mein Vater war der Nachzügler seiner Eltern. Er hatte zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester, eben Lotti Sudstrom. Der eine ältere Bruder mit Namen Ernst war von dunklem Teint, nicht hochgewachsen, doch mit einem angenehmen Gesicht, verliebte sich in eine Münchnerin. Es war ihr bayerisch, das ihn so begeisterte, wenn sie redete. Sie redeten einander grundsätzlich mit „Manderl“ und „Weiberl“ an. Kinder bekamen sie nie, und über die Gründe wurde innerhalb der Familie niemals spekuliert: es war so, wie es war. Mich jedenfalls beunruhigte das, denn Kinder bekommt man nur, wenn man sich wirklich liebt ...so hatte man mir gesagt. Ich sah sie nur zweimal in meinem ganzen Leben, war aber stets beeindruckt von der liebevollen Art, in der sie miteinander sprachen. Irgendwas konnte also an der Kinderkriegen-Theorie nicht stimmen. Denn wenn man nur Kinder bekommt, wenn man sich wirklich liebt, hätten die beiden Dutzende gehabt, dachte ich. Irgendwas war faul an dieser Sache mit dem Lieben und Kinderkriegen.
Da der Münchner der Patenonkel meines Bruders Martell, des Jüngsten, war, brachte die Post uns regelmäßig an Weihnachten und am Geburtstag meines Bruders große Pakete ins Haus. Niemand sonst bekam so regelmäßig so große Pakete. Alle waren aufgeregt, platzten vor Neugier, was der Onkel Ernst aus München dem Kleinen wieder geschickt hatte. Was er arbeitete, weiß ich nicht genau. Von seinem „Weiberl“ weiß ich, dass sie im Atomkraftwerk arbeitete und weiter weiß ich, dass beide zeit ihres Lebens nie den Arbeitsplatz wechselten. Sie liebten Wechsel nicht. Ja, sie schienen Veränderungen zu verabscheuen. Vielleicht spielt das sogar eine Rolle bezüglich ihrer Kinderlosigkeit: ein dritter Mensch hätte eine völlig neue Konstellation zur Folge gehabt. Sie hatten eine kleine bayerisch eingerichtete Wohnung ganz in der Nähe vom Stadelheimer Gefängnis in einem unauffälligen Mietshaus. In der dem Haus zugehörigen Garage hatten sie einen BMW größeren Kalibers verborgen, den sie nur zu besonderen Gelegenheiten ausfuhren, und an den anderen Tagen versuchten sie emsig, den Wagen noch glänzender, noch strahlender hinzukriegen, als er sowieso schon war. Denn wie die Fenster der Wohnung im zweiten Stock gewissenhaft jeden einzelnen Morgen ihres zufriedenen Zusammenlebens bis zur Durchsichtigkeit geputzt – be-putzt – wurden, so wurde der Schatz in der Hinterhofgarage bis zur Selbstaufgabe gepflegt und geliebt. Mein Vater pflegte stets, sich darüber lustig zu machen. Vielleicht war er insgeheim auch ein bißchen neidisch, denn liebend gerne hätte er auch einen BMW gehabt. Das fette Automobil war ihr Ein und Alles, ihr Schatz, ihr Stolz. Mitternachtsblau. Am schönsten war es für sie, wenn sanftes Vollmondlicht den Hinterhof überflutete. Sie schlichen sich herzklopfend auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, überquerten, sich vielsagende Blicke zuwerfend, den bei Nacht so anders aussehenden Garagenhof und öffneten ganz leise das Tor. Mein Vater mit seiner schauspielerischen Ader konnte die beiden ganz gut nachmachen. Ein Mondstrahl fiel auf den tiefblauen Bug der Limousine. Das Manderl und sein Weiberl erstarrten einen Moment vor ehrfürchtigem Stolz. Sie nickten einander zu, nachdem sie ihre weichen, schneeweißen Handschuhe übergestreift hatten: ein Geschenk einer japanischen Firma. Wenige Augenblicke später schoben sie ihn lautlos in den vollen Mondstrahl just vor der Garage. Andächtig schauten sie hoch. „Kommt der Mondstrahl aus der Erde? Oder kommt er vom Himmel?“ Ergriffenes Schweigen. „ I...I – woas net..“ Solcherlei Dinge hätten sie sich allen Ernstes gefragt, spottete mein Vater. Sie gönnten sich einige, kurze Minuten. Es war ihnen ein Hochgenuß, ihren BMW, vom Mond verzaubert, zu sehen. Dieser satte, in sich strahlende Nachtblau-Ton – er erfüllte ihre kleinen, sich gegen Veränderungen im Großen wie im Kleinen sträubenden Herzen und erzeugte eine seltsame, rare Form der Sehnsucht, die nicht zur Melancholie, sondern zu Innerer Sicherheit strebt. Beide lebten auf in diesen Vollmondnächten, sie tankten Benzin für ihren Lebensantrieb. Stolz und Selbstsicherheit wuchsen, und bald fühlten sie sich so ähnlich, wie unverwundbar. Sie wußten nichts über die Macht der Farben und des Lichts, ihnen war völlig egal und nicht bekannt, dass Yves Klein sich angeblich richtig abmühen mußte, um sein „Yves-Klein –Blau“ hinzukriegen…dennoch war ihr Urinstinkt in dieser Hinsicht erstaunlich gut erhalten. Onkel Ernst und sein Weiberl hatten ihr Geheimnis. Es währte so lange, bis ein ausgebrochener Sträfling vom Knast gegenüber zufällig, im Bemühen, sich möglichst unauffällig im Schatten haltend in dieser hellen Nacht, das Geheimritual mit dem verzauberten Auto im Mittelpunkt und als zentrales Kultobjekt der Handlung, aus nächster Nähe miterlebte. Der Ausbrecher verharrte still und geduldig im Schatten und beobachtete, wie ein relativ kleiner Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und eine relativ kleine Frau im Dirndl vor der blitzenden Karrosse in die Knie sanken. „Wahnsinn“, dachte der Ausbrecher, „Wahnsinn!“. Zu früher Stunde rasselte der Wecker. Es würden nur noch fünf oder zehn Minuten vergehen, bis die Missetat entdeckt werden würde: weit geöffnet würde das Garagentor vorgefunden werden, das sie sorgfältig, wie immer in all den Jahren zuvor, abgeschlossen hatten. Der Notarzt mußte gerufen werden. Wenige Jahre später würden sie beide im Abstand von einer Woche sterben: an verletztem Stolz und an den seelischen Folgen des Diebstahls des Wesens, welches sie am meisten auf der Welt liebten außer einander. Die dritte Person. Das Dritte. Ihre Trinität. Dass sie so angreifbar waren, wurde ihnen erst jetzt bewußt. Sie bauten körperlich und geistig rapide ab, verloren fast sogar das Interesse füreinander. Sie bemerkten ihre Entfremdung allerdings bereits im Anfangsstadium und schalteten sofort. Es war das einzige Mal in ihrem Leben gewesen, dass sich leichte Misstöne in ihr harmonisches Duett eingeschlichen hatte. Sie verließen diese Welt im Bewußtsein auf gegenseitiges Vertrauen. Zuletzt hatten sie doch noch gewonnen.

Montag, 12. April 2010

Hartmut, der Zweite, war zwei Jahre alt, als sein von allen vergötterter Bruder seinen letzten pfeifenden Atemzug tat. Der todkranke Junge holte ganz tief Luft, stieß diese mit einem unheimlichen, sehr kräftigen Rasseln elefantengleich aus den geweiteten Nasenflügelchen... („mein Gott! Was für feine Nasenflügelchen! Wie eine Libelle, so zart, so ...kunstvoll geschnitzt!“ hätte angeblich der obduzierende Pathologe voll ehrlicher Bewunderung gesagt)...und atmete dann nicht mehr.
Tante Lotti, Onkel Emil und auch der übriggebliebene kleine Hartmut, waren mehre Jahre nicht mehr ansprechbar. Der Verlust des Erstgeborenen, mit zahlreichen ungewöhnlichen und vielversprechenden Begabungen überreich gesegneten bildschönen Kindes, brachte tiefe Trauer und eine verzweifelte Lähmung über die einstmals lebensfrohe Familie. Die Männer haben sich oberflächlich erholt. Die Mutter niemals. Sie, die immer gesund war vorher, wurde von allerlei unbekannten heimtückischen Krankheiten des Körpers und der Seele ereilt. Nach einigen Jahren entwickelte sie verschiedene Krebssorten bösartigsten Kalibers, die sie nicht sofort dahin rafften, sondern erstmal noch weitere dreieinhalb Jahre schwersten Leidens bescherten. Die ganze Familie atmete auf, als ein Jahr nach Hartmuts Abitur(er hatte fast die Hälfte seines Zivildienstes hinter sich) die Nachricht von Tante Lottis Tod kam: endlich hatte sie es geschafft. Sie war eine geliebte Person für viele gewesen und hinterließ eine große Lücke. Onkel Emil und Hartmut erledigten den gesamten Haushalt in Lottis letzten Jahren, so fiel es, technisch gesehen, nicht so schwer, ohne die Frau und Mutter im Haus zu leben. Sie versuchten, tapfer und männlich, das Schicksal anzunehmen und sich gegenseitig Halt zu bieten. Emil sah nie wieder im Leben eine Frau an.
Hartmut studierte nach dem Zivildienst sein Neigungsfach Geologie. Er lernte eine junge Kollegin kennen, die seine Begeisterung für alte Gesteinsbrocken teilte, und sie nahmen einen Forschungsauftrag in Südafrika an, weil sie sonst keine Alternative hatten. Schweren Herzens verabschiedete sich Hartmut von seinem stark gealterten Vater (immer noch so dünn, so abgemagert, wie kurz nach dem Krieg), flog nach Südafrika und heiratete dort seine Kollegin Barbara. Viele Jahre später erfuhr ich, dass die Ehe nach einigen Jahren und vier Kindern in die Brüche ging, Hartmut einen Forschungsauftrag fünfzig Kilometer weiter, aber in einer völlig verschiedenen Landschaft annahm, und sich irgendwo im Busch einige Blockhäuser gebaut hat. Von da verliert sich seine Spur.

Sonntag, 11. April 2010

Lotti Sudstrom bekam überglücklich nach einer äusserst unangenehmen, langdauernden und schwierigen Geburt ihr erstes Kind. Benommen von der Anstrengung der vergangenen fünf Tage (so lange hatte es gedauert vom Fruchtblasensprung bis zur kompletten Entbindung) lag sie leichenblass da, als ihr die Ärzte erklärten, sie sei nicht normal, da sie volle fünf Tage benötigt hatten, das Kind aus ihr heraus zu kriegen. Lotti nahm sich zusammen und fragte nach dem Kind. „Der Vater sieht draussen soeben seinen Sohn!“ Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen. Doch erneut richtete sie sich auf: „Ist es…?“ „Vollkommen gesund, voll ausgebildet, alles dran an dem jungen Mann!“ Triumphierend blickte eine burschikose, ihr unbekannte Krankenschwester auf Lotti herab, als sei es ihr persönlicher Verdienst, dass das Neugeborene so topfit war.
Während Lotti ausgepumpt in die Kissen zurückfiel und schlief, ehe sie mit dem Rücken die Bettwäsche berührte, wiegte Emil seinen neuen kleinen Sohn in den Armen. Er hatte wohl ein natürliches Gefühl für Säuglinge, denn niemand mußte dem Offizier zeigen, wie man ein Neugeborenes hält. Die Schwester betrachte die Szenerie einen Augenblick, wandte sich dann gerührt ab. Onkel Emil liebte es, wieder und wieder zu berichten, wie er seinen kleinen ersten Sohn Ulrich zum ersten Mal sah und in die Arme nahm. Emil war so durchdrungen von dem unglaublichen Glücksgefühl, ein Neugeborenes, seinen eigenen Sohn, bei sich zu haben, dass er hemmungslos weinte. Er machte den Kleinen naß mit seinen Tränen, doch der streckte nur zwischendurch mal die winzige Zunge raus, um die Flüssigkeit aufzufangen. Das fand der ohnehin ergriffene Emil derartig rührend, dass er laut weiter weinen mußte. So bestand die erste Mahlzeit im Leben des kleinen Ulrich aus den heißen, salzigen, mit unbändiger Liebe gewürzten Tränen eines überquellenden Herzens. Der zweite Sohn, mein Vetter Hartmut, wurde geboren, als Ulrich drei Jahre alt war. Dieses mal war die Entbindung entgegen allem, was der nervösen Lotti prophezeit wurde wirklich eine leichte Geburt.
Onkel Emil realisierte, dass er nun Vater zweier prächtiger junger Kerlchen war. Der Neue war ein bißchen runzlig und rot, und er hatte auch nicht so dichtes Haar, wie der ältere Ulrich. Emil nahm seiner Frau das Baby ab, bettete es ganz vorsichtig zwischen sie beide, und weinte vor Freude und Stolz. Sie betrachteten mehrere Stunden lang das neue Kind, prägten sich ein, wie es im Unterschied zu dem ersten aussah, denn sie wußten ja, wie schnell sich Neugeborene verändern.
Ulrich wurde nur fünf Jahre alt. Er war so unnormal hübsch, daß wildfremde Menschen näherkamen, um sich an seiner Schönheit zu erfreuen und sich von ihr erschüttern zu lassen. Zudem war Ulrich noch mit der Gabe der weit über dem Durchschnitt liegenden Intelligenz ausgestattet. In einer Bäckerei strich ihm eine fremde Dame, die sich fasziniert auf seine Höhe hinabbeugte, wie in Trance über das dichte, hellbraune Haar, das in sanften Wellen seine Schultern bedeckte.
„Mein Gott,“ murmelte sie, und schluckte, „…wie heißt du?“ Er schlug sittsam die Augen nieder, umrahmt von den längsten Wimpern mit dem perfektesten Schwung, zog dann leicht, raffiniert dosiert, die halbmondförmigen Augenbrauen hoch, holte den Blick aus träumerischer Ferne genau in den Fokus der ihn anstarrenden Dame :
„Gisela!“ flötete er mit einer Koketterie und mit einer seinem Alter unangemessenen Portion Erotik, daß alle Anwesenden merklich tief Luft holten. Manche angenehm, manche unangenehm in den abgründigsten Tiefen ihrer geheimsten Sehnsüchte berührt, vielleicht erinnert an unanständige, verbotene Gelüste. Tagelang noch waren sie aus der Bahn geworfen, unentschieden, hin- und hergerissen ob dieses erstaunliche, überirdisch schöne Kind nun ein reiner Engel, über alle Bosheit erhaben, unschuldig, wie jedes Kind, sei, oder direkt aus der Hölle geschickt, um Verführung und Verderben zu bringen in der Verkleidung eines Himmelsgeschöpfes. Nach dem ersten Schreck erholten sich die Erwachsenen erfahrungsgemäß ein wenig, und es setzte der Prozess der Schuld-Selbst-Zuweisung ein: wer so schmutzige Gedanken hat beim Anblick eines so reinen Kindes, sollte der sich vielmehr nicht selbst anklagen? Sich schuldig fühlen wegen seiner Verdorbenheit?
Ulrich wurde schwer krank. Die Ärzte konstatierten Lungenentzündung in fortgeschrittenem Stadium, und konnten nichts mehr für den Jungen tun.

Donnerstag, 8. April 2010

Ich wurde geboren als erstes Kind eines Waisenknaben und einer Zahnarzttochter.
Zur Hochzeit im April des Jahres 1955 versammelten sich zwei Familien ( oder, was nach dem Krieg noch davon übriggeblieben war) irgendwo in einem idyllischen sauerländer Fachwerk-Städtchen an einem mickrigen, aber reich mäandernden Flüsschen, welches sich nach vielen anstrengenden Kilometern durch schwermütige, dustere Landschaften erleichtert in den wichtigsten Strom des Kohlenpotts ergießt. In diesem unübersichtlichen menschlichen Ameisenhaufen befindet sich eine von zahlreichen Städten an den Ufern des Flusses. Dort wohnte die Familie Sudstrom. Frau Sudstrom, ältere Schwester meines zukünftigen Vaters, hat ihren Mann im Krieg in seiner Abwesenheit geheiratet; eine „Fernhochzeit“, man schickt unterschriebene Standesamtformulare, Fotos, und alles andere, was so an Nachweisen benötigt wird, hin und her, und wenn das alles mit Stempel versehen ist und jeder Menge anderer Unterschriften in mehrfacher Ausfertigung, erhält nach Wochen des Wartens eine schriftliche Bestätigung, dann weiß man, daß man verheiratet ist.
Lottis Emil kam eines Tages unangekündigt nach Hause, das heißt, Lotti war beim Bettwäsche aufhängen im hinteren Teil des Gartens. Tante Lotti erzählte, wie ihr zumute war, als sie im zugewachsenen Teil des Gebüschs diesen regungslos da stehenden Mann bemerkt, der sie anstarrte. Sie schrie erstmal, was sie konnte. Niemals zuvor im Leben hatte sie Grund gehabt zu schreien, und sie war erstaunt, wie anstrengend diese Tätigkeit ist, wenn man sich so richtig reinsteigert. Nach eineinhalb Minuten, die ihr alle Kraft geraubt hatten, und sie schwer atmend, nach Luft schnappend, völlig erledigt im Gras lag, trat der Mann aus dem schattigen Gebüsch. Sie schloß vorsichtshalber mal die Augen und faltete die Hände. Sie mußte zusammenzucken bei der federleichten, nicht unangenehmen Berührung, die sie auf ihren Handrücken registrierte. Sie ärgerte sich kurz ein bißchen darüber, daß es angenehm war, faßte sich wieder und gab sich Mühe, in ihrer Position zu verharren und stellte sich in etwa tot. Sie hoffte inständig, möglichst unauffällig zu wirken, und, um bloß nichts Einladendes an sich zu haben, war sie mit ihrer finstersten, abweisendsten, verächtlichsten Miene erstarrt. Noch so eine schmetterlingsgleiche Berührung. Wieder augenblickliches Zusammenzucken. Die Berührung war sanft. Lotti lag da, verspannt und kalt, wie ein toter Fisch. Ihre eine Hand spürte einen heißen, schweren Tropfen hinunterrinnen. Er verlor sich auf dem Gelenk. Dann kam noch ein solcher Tropfen, auf die andere Hand. Jemand hatte sich neben sie gekniet. Ihr Name wurde, leise, fragend, ruhig, sehr zärtlich, von tränenüberströmten Lippen, wie sie deutlich fühlen konnte, an ihr Ohr gehaucht. Manchmal gehen solche Kriegsehen nämlich auch gut. Da ging ihr ein Licht auf. „Endlich“, dachte sie. Sie lagen die ganze, aussergewöhnlich klare Nacht engumschlungen mit romantisierten Herzen im nachlässig geschnittenen Gras, zu glücklich, um sich über die Unmengen von Disteln zu ärgern, zu erschöpft von den letzten drei Jahren, um die ungewöhnlich zahlreichen, hell blitzenden Sternschnuppen, irgendwo in der Stratosphäre verglühend, zu bemerken.

Mittwoch, 7. April 2010

Meine zukünftigen Eltern heirateten im April. Für die drei Geschwister meiner zukünftigen Mutter brach eine Zeit der Versuche an. Gerd faßte den glühenden Entschluß, ins Kloster zu gehen. Erika versuchte sich optimistisch und voller Appetit als unabhängige Geschäftsfrau in der Großstadt. Inge war irgendwo schwanger im Süden von Frankfurt und versuchte, ohne Dienstboten in einem Reihenhaus zu überleben. Schneller, als für möglich gehalten, gewöhnte sie sich an den Ehemann. Es war ein nahtloser Übergang, vorher war sie gehorsam ihrem Vater gegenüber, am nächsten Tag dem Ehegemahl. Sie fand, es war eine schöne Zeit, und schätzte sich glücklich, dass sie immer jemanden hatte, dem sie gehorchen konnte.
Mein zukünftiger Vater. Er wurde am Rand des Kohlenpotts geboren, lange Jahre war ihm seine familiäre Herkunft unangenehm. Seine Eltern kenne ich nicht: er war ein Waisenkind ohne Mutter und Vater seit er zehn war. Sein ausgeprägtes Talent, lebendig und dramatisch zu erzählen baute er in diesen Jahren immer mehr aus,denn für einen Lehrer am Gymnasium ist es das Kapital schlechthin. Jeder ist lieber bei einem Lehrer, der packend erzählen kann. Je langweiliger der Stoff, desto wichtiger ist es, ihn in müde Oberstufenschüler, die am Abend zuvor zu lange unter Alkoholeinfluß diskutiert und mit wilden Weibern gefeiert haben, reinzukriegen. Zunächst war ich stolz darauf, daß mein Vater der einzige Lehrer weit und breit war, der diese psychologischen Raffinessen mit Riesenerfolg einsetzte. Das änderte sich schlagartig, als ich dreizehn Jahre alt war. Lustig war auch oft, wenn er Gags aus dem Schultag erzählte, deren Pointe für mich als Kind nicht immer sogleich als Witz erkennbar war. Das herzhafte Gelächter meines Vaters konnte allerdings ansteckend sein, und an der Art, wie er lachte, wie er dabei Atem holte, in welcher Tonlage, wie lange es andauerte, und seine Kopfhaltung, gaben mir Aufschluss darüber, warum er lachte. Ob es ein saukomischer Witz war, auf welchem intellektuellen Niveau sich der Scherz befand, ob es sich um eine übermütige Sprachspielerei handelte, oder ob es sich um die schwierigen ging, wo man erst einmal fünf, zehn Minuten überlegen muß, um schließlich schon alleine vor Erleichterung, kapiert zu haben, los zu geiern. Als ich in die Pubertät kam, fand ich seine Späße, von denen ich 98% in all den Jahren vorher zum Schreien komisch fand, und die ich als sein ältestes Kind und damit in seinen Augen also das verständigste Opfer, praktisch zweimal täglich mit tiefster Überzeugung erzählt und vorgespielt bekam, reichlich albern. Daß diese Lebensphase per se eine hochgradig alberne mit Tendenz zu Hysterie ist, kam mir nicht in den Sinn… so frühe Pubertät und so. Der Vorname meines Vaters war Karl. Einige Jahre später in Westafrika entwickelte er ein etwas kokettes Gehabe: er fing an, es wirklich zu lieben, wenn man ihn französisch „Charles“ nannte. Nicht „Tscharls“, englisch. Er hatte die weichere Version gern: „Schahrrrölll“, mit weichem Anfang, mit weichem Ende. Ich war zwölf, als ich das zum erstenmal hörte.

Dienstag, 6. April 2010

Für den feingliedrigen, etwas überkandidelten , fest im katholischen Glauben verwurzelte Zahnarzt, (er bestand bei jeder Mahlzeit auf weiße Tischwäsche mit allen drum und dran), bedeutete die seit zwei Monaten erwiesene Eheuntauglichkeit Inges weit mehr, als nur ein für alle weithin sichtbares Makel. Als studierter Mann, griechisch, latein, Theologie, alles neben Medizin/Zahnmedizin, begriff er sofort hinter seiner emotionalen, sozialen und katholischen Lähmung, daß von nun an nichts mehr so sein würde, wie früher. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er jemals wieder seinen Patienten unter die Augen treten sollte.
Wie macht man das noch..wie ist das noch gewesen mit der Meditation..wie haben Zehntausende von Mönchen über viele Jahrhunderte..Konzentration..auf eine Fliege, auf einen Punkt..Die der Falle und dem sicheren, klebrigen Tod eilig zustrebenden Insekten sind so… schamlos…oder ist es gar unschuldig… vielleicht ein bißchen wie Erika und ihr..so nach dem Motto, denn sie wissen nicht, was sie tu..nun, jetzt geht es aber zu weit!..also, was machen die Fliegen denn da!?..Erregt vor Zorn, mit wild fuchtelnden Armen, springt der Zahnarzt auf, alle sind erschrocken und verstummen mit einem Mal, wie sollen sie denn ahnen, dass seine gepeinigte Seele versucht, den letzten Rettungsanker zu ergreifen. Sie wundern sich zwar, was die Heftigkeit des Ausbruchs angeht. An seine divenhaften Launen sind sie aber gewöhnt. Es ist wie sonst. Nur ein bißchen mehr. Und nach fünf Minuten Atemanhalten geht das plappernde Geschwätz am Familientisch weiter. Das Leben geht weiter. So war es immer.
Alles braucht seine Zeit. Meine Tante Erika wurde in Ausübung ihrer Tätigkeit als freundliche Wurstverkäuferin immer besser. Lebhaft schilderte sie mir, wie nach zwei Monaten und etlichen Kilos mehr auf den Hüften, ihr die Vermieterin anbot, den Stand voll und ganz zu übernehmen. Das Leben und die Männer im insbesonderen hatten es nicht immer gut mit ihr gemeint. Natürlich war sie hocherfreut. Der eigene Wurststand, am Haupt-Bahnhof. Sie sah sich als Eigentümerin eines volkswirtschaftlich aufstrebenden Betriebes mit glänzenden Zukunftsaussichten. Sie sah sich in den Armen eines ehrlichen, fleißigen und einfachen Arbeiters : er, wie er sich morgens zur Schicht mit einem Kuss auf die Wangen von ihre verabschiedet, sie, wie sie lächelnd im Frühnebel ihr eigenes Wurstmobil aufschliesst. Allein die Vorstellung gab ihr eine Ahnung von dem Sicherheitsgefühl, von der Geborgenheit, die sich sich so ersehnte. Zu dem frühen Zeitpunkt hatten ihre weißen Finger bereits Grübchen, nur sahen sie damals noch herzig aus. Niemand dachte sich was dabei. Ein Jahr später war sie kaum wiederzuerkennen. Mein Onkel Gerd, der aus dem anderen Ei gekommen war, war mit seinen Gedanken noch bei der hübschen Kundin, der er am Morgen einen Lippenstift verkauft hatte.
Im Grunde seinens Herzens wußte niemand so gut, wie Gerd selbst, wie verloren er sich auf dem Posten des Augenbrauen- u. Lippenstifthändlers vorkam. Ein halbes Dutzend Jahre später wurde ihm im Nachhinein klar, warum er damals zum Scheitern verurteilt war. Es waren theologische Gründe. Je weiter er mit seiner Lehre kam, je näher die Drogistenprüfung ins Haus stand, desto unwohler fühlte sich Gerd in seiner Haut. Wie so manches andere Familienmitglied hatte auch er keinen ruhigen Schlaf. Besonders fasziniert sperrte ich die Ohren auf, wenn er mir von seinem immer wieder kehrenden Albtraum berichtete. Im Traum drehte er regelrecht durch: es ging immer wieder um überdimensional große Lockenwickler und Lippenstifte, die er einsam und allein in Schwerstarbeit über reißende Wasserfälle und durch glühende Wüsten zu transportieren versuchte.
Er erwachte morgens zwei Wochen vor seiner Drogistenprüfung als neuer Mensch. Was genau ihm der Himmel mitgeteilt hatte, blieb immer sein Geheimnis. Nur soviel: nach einer ausgiebigen Waschung mit kaltem Wasser und einem Gebet auf Knieen stelzte Gerd erfüllt mit der Ruhe des Herrn auf die andere Strassenseite, zur Drogerie Egel. Wenige Minuten später war es vorüber. Er hatte gekündigt, dem verwirrten Herrn Egel erklärt, von nun an werde er, Gerd, Gottes Werkzeug auf Erden sein, holte sein weniges Erspartes von der Bank, und während sein Vater mit seiner einen Schwester versuchte, einem strampelnden Sechsjährigen einen Abdruck seine schiefen Zähne abzunehmen, kam Gerd aus dem Musikinstrumentegeschäft heraus, unterm Arm ein großes Paket, länglich und breitlich, auf den Lippen ein zufriedenes Lächeln. Freudig zugenickt hat ihm dabei das Fräulein Rosenstengel, hochmusikalisch, und deswegen ein bißchen schusselig. Sie war soeben im Begriff die Tür des Geschäfts, wo sie ihre bestellten Noten abholen wollte, zu öffnen, als sie mit Gerd auf der Schwelle zusammenstiess. Mit dem Blick der langjährigen, alleinstehenden Expertin erfaßte sie, was er da für ein Schätzchen mit sich trug. Sie nannte ihm nach einer Sekunde die Marke der Gitarre, deren Handhabung und wie sie am effektivsten und akustisch schönsten zu stimmen sei. Gerd war enorm beeindruckt, dass sie einen Röntgenblick besaß, da das Instrument doch in eine Hülle aus Stoff, und noch in diverse Verpackungen gekleidet war. „SIE also auch,“ murmelte er demütig. Sie streifte die Verpackung leicht mit der Hand und entgegnete sanft, mit einem unmerklichen Nicken : „Ja.“ Die Sache mit dem Fräulein Rosenstengel wollte ich immer wieder und wieder hören, und bettelte Onkel Gerd an, sie mir noch einmal zu erzählen.

Montag, 5. April 2010

Genug von Tante Inge, Onkel Reinhold und meinem Vetter Hochst. Weiter mit den letzten Geschwistern meiner Mutter.
Die Zwillinge Erika und Gerd gerieten sehr niedlich. Die komplette Nachbarschaft bewunderte in dem überheizten Zimmer das wunderliche Phänomen der Geminität. Mitten im Winter, Zwillinge, geboren unter dem Sternzeichen des Steinbocks. Wirklich ausgesprochen süß, die beiden, und gar nicht so runzlig, wie man es sonst kennt. Wie zum Beweis der Theorie mit den zwei Eizellen stellte sich alsbald heraus, das die beiden schreienden Säuglinge verschiedener nicht sein könnten.
Über zwanzig Jahre später. Erika war nicht zufrieden mit dem was ihr bisher in ihrem ereignislosen Leben, wenn man den Zweiten Weltkrieg einmal außer acht läßt, widerfahren war. Sie ließ sich vorzeitig von einem verantwortungslosen, hübschen Angeber nach allen Regeln der Kunst verführen (er hatte wirkliche Glutaugen), schmolz dahin und war auf einen Schlag eheuntauglich geworden. Zumal ihr stürmischer Verehrer nach dem problematischen Ereignis, angereichert mit Weinen, Schreien, und romantischen Hauchern, die ihm einfach nur auf die Nerven gingen, noch während der schwierig zu bewerkstelligenden Entjungferung das Interesse an Erikas Hingabe verlor. Er wollte aber auf keinen Fall in ihrem Gedächtnis als halbherzig weiterleben, und so führte er mit verbissener Hartnäckig zu Ende, was er bei ihr angefangen hatte. Er tat sich sehr und ihr noch mehr weh. Fortan vermied er sorgfältig jeden Kontakt zu Erika. Deshalb nahm er, gewissermaßen dankbar für die Ablenkung, laut schnüffelnd die Feromonspur der neu hinzugezogenen Tanzlehrerin direkt gegenüber vom Haus meiner Großeltern auf. An warmen Sommerabenden konnte Erika vor ihrem geöffneten Fenster auf die Tanzschule blicken und die betäubend duftende Linde riechen. Heimlich züchtete sie Raben in ihrem Herzen, entwickelte – wupp!wupp!- Neid auf meine Mutter, die Fleißige, die genau wußte, wie der Hase läuft im Leben. Der erzkonservative Zahnarzt Dr. Dr. A.L. Wasser-Kampf war ausser sich. Die Patienten mit den dicken Backen konnten von Glück sagen, dass er sich hervorragend im Griff hatte, mit so hochnotpeinlichen Vorfällen innerhalb der eigenen Familie.
Die arme Erika wurde in ein abgelegenes Zimmer der Hauses zitiert. Konkrete Worte verstand man nicht, doch Laute der Wut, des Ärgers, des Bedauerns, des Schmerzes, der Vorwürfe, der Klagen, und auch der unendlichen Furcht, waren noch durch die solide gebauten Decken im darunter gelegenen Stockwerk zu vernehmen. Dann unheilschweres Schweigen. Siebeneinhalb Stunden durchlitt das ganze große Haus, im verwinkelten Keller genauso, wie im zugestellten Dachboden, quälende Bedrückung. Die Atmosphäre war für ein junges polnisches Hausmädchen nicht zu ertragen. Nach fünf Stunden am Rande zur Hysterie klappte sie zusammen und hyperventilierte. Es wurde in aller Eile ein Arzt gerufen, und wie sie abtransportiert wurde, festgeschnallt auf eine schmale Bahre, bekam weder der unglückliche Zahnarzt mit, noch seine verzweifelte, sich mit Selbstmordgedanken herumtragende eineiige Zwillingstochter. Wenige Tage darauf schleppte Erika Gepäck nach unten, während meine zukünftige Mutter die Treppe putzte. Flüchtige, verlegene Verabschiedung, - weg war sie. Durch Briefe erfuhr die staunende Familie, dass sie sich als Wurstverkäuferin in einem Stand vor dem Dortmunder Hauptbahnhof ihren Lebensunterhalt selbst verdiente. Während die Familie sich beim Abendessen lebhaft über Erikas neugefundenes Interesse am Leben ausließ, die tollsten Mutmaßungen über ihre mögliche Karriere in den buntesten Farben phantastisch ausmalte, (meine Oma, die zahnärztliche Ehegattin, liebte Zirkus und das tägliche Studium der Bildzeitung noch heißer, als Schnapspralinen) fixierte Dr.Dr. A.L.Wasser-Kampf eine unter vielen vernehmlich laut surrenden Fliegen, wie sie einerseits in betrunkenem Schwirrflug, andererseits aber mit absoluter Zielsichheit den tückisch honigfarbenen klebrigen Streifen der Fliegenfalle anpeilte. Unter dem schweren, vielarmigen Leuchter unter der Speisezimmerdecke war vor einigen Tagen solch ein hinterhältiges Objekt befestigt worden, man hatte eine Leiter dafür holen müssen. Vermutlich bestand ein Zusammenhang zwischen den täglich zahlreicher und lästiger werdenden Fliegen und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber das ist nur meine persönliche Theorie.

Samstag, 3. April 2010

Zurück zu „Hochst“.„Männer um die Zwanzig müssen lernen, wie man unser deutsches Land verteidigt gegen „böse rote Russen und andere rote Kommunisten“, wie mein Opa sie in seiner Umnachtung zu nennen pflegte. Sein Land verteidigt man am besten mit kurzgeschnittenen Haaren. In einer Uniform. Mit schönen, glänzenden Stiefeln. Wie Tante Inge berichtete, wollte Horst das schon mit vier Jahren, als er noch auf dem Spielplatz vor dem Reihenhaus mit fest zusammengepreßten Augen und Hinterbacken von seiner kleinen Mutti abtransportiert wurde, abwechselnd überlegend, wie man die zwei wichtigsten Künste unter einen Hut bringt, die Kunst der Hygiene, und, besonders atemberaubender Gedanke, wie lerne ich, niemals danebenzuschießen. Horst war selten in seinem Leben so aufgeregt gewesen, als er mit bebender Lunge nach bangen Monaten des Wartens den ersehnten Einberufungsbefehl zur Bundeswehr vorfand.
Vorsichtig trug er den länglichen Umschlag in beiden Händen hoch in den dritten Stock. Er holte tief Luft, riß entschlossen die Wohnungtür auf, stolzierte in das Gute Zimmer. Lässig nahm er auf dem Sessel seines Vaters Platz. Sogar breitbeinig. Wie ein Soldat. Inge ließ den Putzlappen sinken, begriff die Tragweite der Situation, schritt zum Klappstuhl hinter der Schrankwand, entfaltete ihn, machte es sich so bequem, wie möglich, und betrachtete die schneeweißen, gestärkten Gardinen vor dem Fenster. Befriedigt stellte sie fest, „…sie sehen ja wirklich aus, wie Luft..“ Es lag eine Spannung in der Luft.
„Hohl ä Priew Öwnä!“ (= Hol einen Brieföffner). Sie stand auf, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Es war die Aufforderung zur Musterung. Nicht jeder kann einfach so in die Bundeswehr eintreten. Man braucht bestimmte Voraussetzungen. Man muß fähig sein. Man braucht ein gewisses Talent. Horst verdoppelte seine Vorstellungskraft: er würde es schaffen. Er würde niemals danebenschießen.
Leider kam es nie so weit. Nun, er war in der Musterung immerhin so gut, daß sie ihm versicherten, er würde einen, seinen ganz persönlichen Einberufungsbefehl bald erhalten. Horst verbrachte zusammen mit seinen Eltern eine Zeit glücklicher Erwartung. Man war nett, rücksichtsvoll und großherzig zueinander, und wartete geduldig auf den Befehl. Er würde kommen. Dann war es soweit. Horst wurde tränen- und segensreich (mit zahlreicher Wegzehrung, die seine Mutter versonnen lächelnd sorgfältig zubereitete hatte) für die Reise in die Lebenstüchtigkeit entlassen.
Zwei Tage später. Im Reihenhaus klingelte es Sturm. Verstört öffnete sein Vater die Wohnungstür, schaute schnell links und rechts, schloß die Tür und drehte vorsichtshalber noch den Schlüssel rum. In der Küche sassen sie dann alle drei für die nächsten Stunden. Schweigend. Mit langen Gesichtern vor sich hinstarrend am Tisch.
Möglicherweise war Horst war ein bißchen zu eifrig gewesen. Sie feuerten ihn nach kurzer Beratung am Morgen des zweiten Tages mit der fadenscheinigen Begründung, dass Männer, die den sehnlichen Herzenswunsch hegen, niemals daneben zu schießen, in der Bundeswehr nicht wirklich erwünscht sind. Ob Horst statt dessen als Zivildienstleistender, in einem Altersheim oder so,..mehr für seine charakterliche Entwicklung…oder so was in der Richtung. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis die Familie dieses Ereignis einigermaßen verdrängen konnte und langsam eine oberflächliche Ruhe über die Wohnung im dritten Stock sank. Die Aufgewühltheit der verzagten Herzen blieb so lebendig wie der Vulkan Merapi auf Java. Sie hat sich nie wieder gelegt.

Mittwoch, 31. März 2010

Vorsichtig trug er den länglichen Umschlag in beiden Händen hoch in den dritten Stock. Er holte tief Luft, riß entschlossen die Wohnungtür auf, stolzierte in das Gute Zimmer. Lässig nahm er auf dem Sessel seines Vaters Platz. Sogar breitbeinig. Wie ein Soldat. Inge ließ den Putzlappen sinken, begriff die Tragweite der Situation, schritt zum Klappstuhl hinter der Schrankwand, entfaltete ihn, machte es sich so bequem, wie möglich, und betrachtete die schneeweißen, gestärkten Gardinen vor dem Fenster. Befriedigt stellte sie fest, „…sie sehen ja wirklich aus, wie Luft..“ Es lag eine Spannung in der Luft.
„Hohl ä Priew Öwnä!“ (= Hol einen Brieföffner). Sie stand auf, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Es war die Aufforderung zur Musterung. Nicht jeder kann einfach so in die Bundeswehr eintreten. Man braucht bestimmte Voraussetzungen. Man muß fähig sein. Man braucht ein gewisses Talent. Horst verdoppelte seine Vorstellungskraft: er würde es schaffen. Er würde niemals danebenschießen.
Leider kam es nie so weit. Nun, er war in der Musterung immerhin so gut, daß sie ihm versicherten, er würde einen, seinen ganz persönlichen Einberufungsbefehl bald erhalten. Horst verbrachte zusammen mit seinen Eltern eine Zeit glücklicher Erwartung. Man war nett, rücksichtsvoll und großherzig zueinander, und wartete geduldig auf den Befehl. Er würde kommen. Dann war es soweit. Horst wurde tränen- und segensreich (mit zahlreicher Wegzehrung, die seine Mutter versonnen lächelnd sorgfältig zubereitete hatte) für die Reise in die Lebenstüchtigkeit entlassen.
Zwei Tage später. Im Reihenhaus klingelte es Sturm. Verstört öffnete sein Vater die Wohnungstür, schaute schnell links und rechts, schloß die Tür und drehte vorsichtshalber noch den Schlüssel rum. In der Küche sassen sie dann alle drei für die nächsten Stunden. Schweigend. Mit langen Gesichtern vor sich hinstarrend am Tisch.
Möglicherweise war Horst war ein bißchen zu eifrig gewesen. Sie feuerten ihn nach kurzer Beratung am Morgen des zweiten Tages mit der fadenscheinigen Begründung, dass Männer, die den sehnlichen Herzenswunsch hegen, niemals daneben zu schießen, in der Bundeswehr nicht wirklich erwünscht sind. Ob Horst statt dessen als Zivildienstleistender, in einem Altersheim oder so,..mehr für seine charakterliche Entwicklung…oder so was in der Richtung. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis die Familie dieses Ereignis einigermaßen verdrängen konnte und langsam eine oberflächliche Ruhe über die Wohnung im dritten Stock sank. Die Aufgewühltheit der verzagten Herzen blieb so lebendig wie der Vulkan Merapi auf Java. Sie hat sich nie wieder gelegt.