Sonntag, 18. April 2010

Als Kind habe ich oft an Ulrich gedacht. Von Hartmut habe ich das Weißbrot-Toasten in einer heißen Bratpfanne gelernt, als ich fünf war. Staunend, dass es funktioniert, knabberte ich meinen ersten, knusprigen Toast.
Mein Vater war der Nachzügler seiner Eltern. Er hatte zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester, eben Lotti Sudstrom. Der eine ältere Bruder mit Namen Ernst war von dunklem Teint, nicht hochgewachsen, doch mit einem angenehmen Gesicht, verliebte sich in eine Münchnerin. Es war ihr bayerisch, das ihn so begeisterte, wenn sie redete. Sie redeten einander grundsätzlich mit „Manderl“ und „Weiberl“ an. Kinder bekamen sie nie, und über die Gründe wurde innerhalb der Familie niemals spekuliert: es war so, wie es war. Mich jedenfalls beunruhigte das, denn Kinder bekommt man nur, wenn man sich wirklich liebt ...so hatte man mir gesagt. Ich sah sie nur zweimal in meinem ganzen Leben, war aber stets beeindruckt von der liebevollen Art, in der sie miteinander sprachen. Irgendwas konnte also an der Kinderkriegen-Theorie nicht stimmen. Denn wenn man nur Kinder bekommt, wenn man sich wirklich liebt, hätten die beiden Dutzende gehabt, dachte ich. Irgendwas war faul an dieser Sache mit dem Lieben und Kinderkriegen.
Da der Münchner der Patenonkel meines Bruders Martell, des Jüngsten, war, brachte die Post uns regelmäßig an Weihnachten und am Geburtstag meines Bruders große Pakete ins Haus. Niemand sonst bekam so regelmäßig so große Pakete. Alle waren aufgeregt, platzten vor Neugier, was der Onkel Ernst aus München dem Kleinen wieder geschickt hatte. Was er arbeitete, weiß ich nicht genau. Von seinem „Weiberl“ weiß ich, dass sie im Atomkraftwerk arbeitete und weiter weiß ich, dass beide zeit ihres Lebens nie den Arbeitsplatz wechselten. Sie liebten Wechsel nicht. Ja, sie schienen Veränderungen zu verabscheuen. Vielleicht spielt das sogar eine Rolle bezüglich ihrer Kinderlosigkeit: ein dritter Mensch hätte eine völlig neue Konstellation zur Folge gehabt. Sie hatten eine kleine bayerisch eingerichtete Wohnung ganz in der Nähe vom Stadelheimer Gefängnis in einem unauffälligen Mietshaus. In der dem Haus zugehörigen Garage hatten sie einen BMW größeren Kalibers verborgen, den sie nur zu besonderen Gelegenheiten ausfuhren, und an den anderen Tagen versuchten sie emsig, den Wagen noch glänzender, noch strahlender hinzukriegen, als er sowieso schon war. Denn wie die Fenster der Wohnung im zweiten Stock gewissenhaft jeden einzelnen Morgen ihres zufriedenen Zusammenlebens bis zur Durchsichtigkeit geputzt – be-putzt – wurden, so wurde der Schatz in der Hinterhofgarage bis zur Selbstaufgabe gepflegt und geliebt. Mein Vater pflegte stets, sich darüber lustig zu machen. Vielleicht war er insgeheim auch ein bißchen neidisch, denn liebend gerne hätte er auch einen BMW gehabt. Das fette Automobil war ihr Ein und Alles, ihr Schatz, ihr Stolz. Mitternachtsblau. Am schönsten war es für sie, wenn sanftes Vollmondlicht den Hinterhof überflutete. Sie schlichen sich herzklopfend auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, überquerten, sich vielsagende Blicke zuwerfend, den bei Nacht so anders aussehenden Garagenhof und öffneten ganz leise das Tor. Mein Vater mit seiner schauspielerischen Ader konnte die beiden ganz gut nachmachen. Ein Mondstrahl fiel auf den tiefblauen Bug der Limousine. Das Manderl und sein Weiberl erstarrten einen Moment vor ehrfürchtigem Stolz. Sie nickten einander zu, nachdem sie ihre weichen, schneeweißen Handschuhe übergestreift hatten: ein Geschenk einer japanischen Firma. Wenige Augenblicke später schoben sie ihn lautlos in den vollen Mondstrahl just vor der Garage. Andächtig schauten sie hoch. „Kommt der Mondstrahl aus der Erde? Oder kommt er vom Himmel?“ Ergriffenes Schweigen. „ I...I – woas net..“ Solcherlei Dinge hätten sie sich allen Ernstes gefragt, spottete mein Vater. Sie gönnten sich einige, kurze Minuten. Es war ihnen ein Hochgenuß, ihren BMW, vom Mond verzaubert, zu sehen. Dieser satte, in sich strahlende Nachtblau-Ton – er erfüllte ihre kleinen, sich gegen Veränderungen im Großen wie im Kleinen sträubenden Herzen und erzeugte eine seltsame, rare Form der Sehnsucht, die nicht zur Melancholie, sondern zu Innerer Sicherheit strebt. Beide lebten auf in diesen Vollmondnächten, sie tankten Benzin für ihren Lebensantrieb. Stolz und Selbstsicherheit wuchsen, und bald fühlten sie sich so ähnlich, wie unverwundbar. Sie wußten nichts über die Macht der Farben und des Lichts, ihnen war völlig egal und nicht bekannt, dass Yves Klein sich angeblich richtig abmühen mußte, um sein „Yves-Klein –Blau“ hinzukriegen…dennoch war ihr Urinstinkt in dieser Hinsicht erstaunlich gut erhalten. Onkel Ernst und sein Weiberl hatten ihr Geheimnis. Es währte so lange, bis ein ausgebrochener Sträfling vom Knast gegenüber zufällig, im Bemühen, sich möglichst unauffällig im Schatten haltend in dieser hellen Nacht, das Geheimritual mit dem verzauberten Auto im Mittelpunkt und als zentrales Kultobjekt der Handlung, aus nächster Nähe miterlebte. Der Ausbrecher verharrte still und geduldig im Schatten und beobachtete, wie ein relativ kleiner Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und eine relativ kleine Frau im Dirndl vor der blitzenden Karrosse in die Knie sanken. „Wahnsinn“, dachte der Ausbrecher, „Wahnsinn!“. Zu früher Stunde rasselte der Wecker. Es würden nur noch fünf oder zehn Minuten vergehen, bis die Missetat entdeckt werden würde: weit geöffnet würde das Garagentor vorgefunden werden, das sie sorgfältig, wie immer in all den Jahren zuvor, abgeschlossen hatten. Der Notarzt mußte gerufen werden. Wenige Jahre später würden sie beide im Abstand von einer Woche sterben: an verletztem Stolz und an den seelischen Folgen des Diebstahls des Wesens, welches sie am meisten auf der Welt liebten außer einander. Die dritte Person. Das Dritte. Ihre Trinität. Dass sie so angreifbar waren, wurde ihnen erst jetzt bewußt. Sie bauten körperlich und geistig rapide ab, verloren fast sogar das Interesse füreinander. Sie bemerkten ihre Entfremdung allerdings bereits im Anfangsstadium und schalteten sofort. Es war das einzige Mal in ihrem Leben gewesen, dass sich leichte Misstöne in ihr harmonisches Duett eingeschlichen hatte. Sie verließen diese Welt im Bewußtsein auf gegenseitiges Vertrauen. Zuletzt hatten sie doch noch gewonnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen