Freitag, 30. April 2010

Hatte ich erwähnt, daß ich die kleine Türkin immer „Ischla“ nannte? Anfangs hatte ich den Namen so verstanden; das „L“ am Ende hatte ich irgendwie nicht mitgekriegt, und als mich das Christel Stolzenberg, die schon die ganze Zeit scharf auf eine Freundschaft mit der Türkin war und nichts unversucht ließ, sie mir auszuspannen, vor der ganzen Klasse mit wichtiger Miene herablassend verbesserte: „...du kannst ja nicht mal seinen Namen richtig sagen – es heißt Ischlal, mit einem „L“ am Ende!“ In unserer Gegend bezeichneten die Sauerländer schon immer ein Mädchen mit „Es“ und „Das“. Langsam aber sicher lief das Ischla über zum Christel, immer öfter spielten die beiden zusammen und liessen mich links liegen. Dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben, das Ischla zu beeindrucken, ich hatte es mit schönen Geschenken überschüttet, um ihr meine Zuneigung zu beweisen. Um keinen Preis wollte ich, daß sich das arme türkische Kind allein fühlte in einem fremden Land. Oft überlegte ich, wie ich mich an Ischlal’s Stelle fühlen würde und beschloß, sie mit deutscher Gastfreundschaft zu verwöhnen. Ich gebe zu, daß es im Grunde genommen ihre Schönheit war, durch die ich mich verführen ließ. Sofort hatte sie mir rein äußerlich gefallen, und dieses Gefallen nahm zu, je öfter und je näher ich sie betrachten konnte. Mein ganzes Leben lang werde ich magisch angezogen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen und Gegenständen, die ich als „schön“ empfinde. Dieses Spektrum wurde schon in ganz jungen Jahren erweitert und somit enorm bereichert durch alles, was der Schönheit genau entgegengesetzt, also häßlich, krankhaft, unnormal oder doch wenigstens fremd war. Zu der Zeit war ich noch nicht in der Lage, zu verstehen, daß andere Menschen ganz anders als ich empfinden, ich glaubte, jeder sähe die Welt durch dieselben Augen, wie ich. Ich beschenkte Ischla also mit meinen schönsten, kostbarsten Lackbildchen, welche ich in einer alten Pralinenchachtel aufbewahrte, bis meine Sammlung so umfangreich wurde, daß sie nicht mehr alle in die Schachtel paßten und ich mir eine größere, stabilere Zigarrenkiste besorgen wollte. Dazu mußte ich die Straße überqueren. Der Tabakwarenladen Bock lag genau gegenüber vom Haus meiner Großeltern, wo wir im oberen Stockwerk wohnten, bis die Bauarbeiten an unserem neuen Haus fertig waren. Der intensive Tabakgeruch in dem Geschäft überwältigte mich jedesmal, obwohl ich fast täglich meiner Oma ihre geliebten „Zehn Lord“ für eine Mark fünfzig kaufte. Mein Kopf war voller Gedanken und mein Herz erfüllt von Vorfreude.

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