Genug von Tante Inge, Onkel Reinhold und meinem Vetter Hochst. Weiter mit den letzten Geschwistern meiner Mutter.
Die Zwillinge Erika und Gerd gerieten sehr niedlich. Die komplette Nachbarschaft bewunderte in dem überheizten Zimmer das wunderliche Phänomen der Geminität. Mitten im Winter, Zwillinge, geboren unter dem Sternzeichen des Steinbocks. Wirklich ausgesprochen süß, die beiden, und gar nicht so runzlig, wie man es sonst kennt. Wie zum Beweis der Theorie mit den zwei Eizellen stellte sich alsbald heraus, das die beiden schreienden Säuglinge verschiedener nicht sein könnten.
Über zwanzig Jahre später. Erika war nicht zufrieden mit dem was ihr bisher in ihrem ereignislosen Leben, wenn man den Zweiten Weltkrieg einmal außer acht läßt, widerfahren war. Sie ließ sich vorzeitig von einem verantwortungslosen, hübschen Angeber nach allen Regeln der Kunst verführen (er hatte wirkliche Glutaugen), schmolz dahin und war auf einen Schlag eheuntauglich geworden. Zumal ihr stürmischer Verehrer nach dem problematischen Ereignis, angereichert mit Weinen, Schreien, und romantischen Hauchern, die ihm einfach nur auf die Nerven gingen, noch während der schwierig zu bewerkstelligenden Entjungferung das Interesse an Erikas Hingabe verlor. Er wollte aber auf keinen Fall in ihrem Gedächtnis als halbherzig weiterleben, und so führte er mit verbissener Hartnäckig zu Ende, was er bei ihr angefangen hatte. Er tat sich sehr und ihr noch mehr weh. Fortan vermied er sorgfältig jeden Kontakt zu Erika. Deshalb nahm er, gewissermaßen dankbar für die Ablenkung, laut schnüffelnd die Feromonspur der neu hinzugezogenen Tanzlehrerin direkt gegenüber vom Haus meiner Großeltern auf. An warmen Sommerabenden konnte Erika vor ihrem geöffneten Fenster auf die Tanzschule blicken und die betäubend duftende Linde riechen. Heimlich züchtete sie Raben in ihrem Herzen, entwickelte – wupp!wupp!- Neid auf meine Mutter, die Fleißige, die genau wußte, wie der Hase läuft im Leben. Der erzkonservative Zahnarzt Dr. Dr. A.L. Wasser-Kampf war ausser sich. Die Patienten mit den dicken Backen konnten von Glück sagen, dass er sich hervorragend im Griff hatte, mit so hochnotpeinlichen Vorfällen innerhalb der eigenen Familie.
Die arme Erika wurde in ein abgelegenes Zimmer der Hauses zitiert. Konkrete Worte verstand man nicht, doch Laute der Wut, des Ärgers, des Bedauerns, des Schmerzes, der Vorwürfe, der Klagen, und auch der unendlichen Furcht, waren noch durch die solide gebauten Decken im darunter gelegenen Stockwerk zu vernehmen. Dann unheilschweres Schweigen. Siebeneinhalb Stunden durchlitt das ganze große Haus, im verwinkelten Keller genauso, wie im zugestellten Dachboden, quälende Bedrückung. Die Atmosphäre war für ein junges polnisches Hausmädchen nicht zu ertragen. Nach fünf Stunden am Rande zur Hysterie klappte sie zusammen und hyperventilierte. Es wurde in aller Eile ein Arzt gerufen, und wie sie abtransportiert wurde, festgeschnallt auf eine schmale Bahre, bekam weder der unglückliche Zahnarzt mit, noch seine verzweifelte, sich mit Selbstmordgedanken herumtragende eineiige Zwillingstochter. Wenige Tage darauf schleppte Erika Gepäck nach unten, während meine zukünftige Mutter die Treppe putzte. Flüchtige, verlegene Verabschiedung, - weg war sie. Durch Briefe erfuhr die staunende Familie, dass sie sich als Wurstverkäuferin in einem Stand vor dem Dortmunder Hauptbahnhof ihren Lebensunterhalt selbst verdiente. Während die Familie sich beim Abendessen lebhaft über Erikas neugefundenes Interesse am Leben ausließ, die tollsten Mutmaßungen über ihre mögliche Karriere in den buntesten Farben phantastisch ausmalte, (meine Oma, die zahnärztliche Ehegattin, liebte Zirkus und das tägliche Studium der Bildzeitung noch heißer, als Schnapspralinen) fixierte Dr.Dr. A.L.Wasser-Kampf eine unter vielen vernehmlich laut surrenden Fliegen, wie sie einerseits in betrunkenem Schwirrflug, andererseits aber mit absoluter Zielsichheit den tückisch honigfarbenen klebrigen Streifen der Fliegenfalle anpeilte. Unter dem schweren, vielarmigen Leuchter unter der Speisezimmerdecke war vor einigen Tagen solch ein hinterhältiges Objekt befestigt worden, man hatte eine Leiter dafür holen müssen. Vermutlich bestand ein Zusammenhang zwischen den täglich zahlreicher und lästiger werdenden Fliegen und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber das ist nur meine persönliche Theorie.
Montag, 5. April 2010
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