Montag, 19. April 2010

Der jüngste Bruder meines Vaters hieß Willi, den hatte ich am liebsten. Er war ein gottesfürchtiger und waghalsiger Motorrollerfahrer. Mit seiner Kinderschar und der mütterlich wirkenden Mariechen hatte er ein
zweistöckiges altmodisches Haus mit drei verschiedenen Verandas, Garten und mehren Balkonen gemietet. Sehr geräumig war es nicht, aber so merkwürdig gebaut, dass ich als kleines Mädchen den Eindruck hatte, mich in einem Labyrinth ähnlichen Palast zu befinden. Ein undurchsichtiges System zahlreicher Türen, Treppen, Flure, Erker, falscher Gewölbe und echter Türmchen verwirrte und verzauberte mich gleichermaßen: das Haus war ein Wagnis. Es schien lebendig, atmend, pulsierend, und manchmal wiegte es sich zum Rhythmus des Windes, der im Garten an den zwei Obstbäumen zerrte. Es kam sogar vor, dass ich glaubte, das alte Gebäude verfüge über die Fähigkeit des Lachens. Jedenfalls hatte das Haus Humor. Wenngleich merkwürdig, war es nicht unheimlich. Es glich einer netten, freundlichen, zu Späßchen aufgelegten Oma, noch rüstig, bereit zu harmlosem Schabernack, von Zeit zu Zeit seufzend in Erinnerung versunken, ohne es selbst zu bemerken, bis sie sich wieder bewegte, und sie auf einer Woge von Lebenswillen surfte. Auch wenn surfen zu der Zeit noch nicht verbreitet war im Detmolder Raum. Onkel Willi und Tante Mariechen waren nicht mit körperlicher Schönheit gesegnet. Dass sie sich dennoch auf eine bestimmte Art „bevorzugt“ fühlten, verdankten sie derselben Frömmigkeit, von der auch ihre Kinderschar herrührte. Vor jeder Mahlzeit wurde mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen gebetet, vor allem den Text „Gott Dir in die Hände sei Anfang und Ende sei alles gelegt“ hatte ich mir eingeprägt. Zum gemeinsamen Mittagessen kam Onkel Willi, Prokurist für eine Versicherung, nach Hause in die Wälderstrasse, wo jeden Tag ein anderes Familienmitglied ein Kalenderblatt abriß, um das christliche Motto des Tages laut vorzulesen nach dem Essen. Man sagte dazu nichts, ein Kommentar war nicht erwünscht. Aufnehmen und handeln, darum ging es. Irgendwie waren sie so anders, als die Christen, die ich kannte. Zweifellos war da eine starke Tendenz zu Transzendenz und Urchristentum, reichlich gewagt also, das Ganze. Es erschien nur logisch das der älteste Sohn Gottfried ein Kommunist wurde, glühender Anhänger marxistischer Theorien, stets die Mao-Bibel parat haltend für passende Zitate. Er eröffnete die erste christlich-kommunistische Buchhandlung der Welt, von Marx-Mao-Lenin-Trotzki-Luxemburg-Che Guevara-Ho Tschi Minh-Thomas von Aquin-Schriften überquellend. Ich nahm ein Buch in die Hand. Der Autor hieß Martin Luther, Titel „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Da war ich immerhin schon dreizehn, und die Namen der Chefkommunisten der Welt waren mir durchaus geläufig. Einen Martin Luther kannte ich nicht. Vermutlich Argentinien, Uruguay, vielleicht auch Brasilien, da haben sie komische Namen, wie Carlos Habakuk Jesús Maria Raimundo. An dem Tag war Gottfried an der Reihe gewesen am Mittagstisch der Familie. Er erhob sich zu seinen ganzen iumposanten Zwei-Meter-und–vier, neben ihm wirkte Onkel Willi wie Toulouse-Lautrec. Mit tiefer, ruhiger Stimme las feierlich Gottfried vor: „Lebe immer, was du sagst.“ Bedeutungsvolle Pause. Die fünf Worte waren nicht zitiert, sondern vorgelesen. „Lebe immer, was du sagst.“ Stirnrunzelnd schaute ihn sein kleiner Vater an. Niemand sprach ein Wort. Man setzte sich, machte das Kreuzzeichen. Noch zwei, drei Augenblicke Stille, dann standen sie auf, rückten die Stühle, jeder brachte seinen Teller in die Küche, und den Rest räumte derjenige auf, der das Kalenderblatt vorgelesen hatte. Das taten sie immer so.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen