Dienstag, 20. April 2010
Nach einer Stunde Mittagsruhe, begleitet von lauten Pianoklängen, machten sich Onkel Willi und Gottfried wieder auf zur Arbeit. Der zweite Sohn Gottlieb war der Künstler in der Familie, er hatte vor kurzem Jazz entdeckt. Niemand störte sich an seinen musikalischen Ausbrüchen, wenn er inspiriert war. Er haute und trat derart in die Tasten des alten Klaviers, dass sich das Haus vor Freude bog . „Aber das Klavier ist doch gar nicht richtig gestimmt!“ bemerkte Uta, die jüngere Schwester. „Das muß so sein, das ist eben Free Jazz!“ warf der kleine Friedemann ein. Je, nachdem, wie das Wetter war, drückten Onkel Willi die Einschussnarben. Vor Stalingrad hatte er eine besonders moderne russische Munition von höchst durchschlagender Wirkung durch die Oberschenkel abbekommen. Auf Bitten der Kinder erzählte er die Geschichte immer sehr spannend. Das Geschoss erwischte ihn, gerade, als er den rettenden Graben ausgemacht hatte und, hoffnungsvoll, seine Frau vor Augen, mit aller verbliebener Kraft auf die rettende Deckung zurannte. Es lag einfach zuviel Schnee, um solch eine Aktion erfolgreich abzuschliessen. Kurz vor dem gut getarnten Graben, in dem sich Kameraden, ihn anfeuernd, ihm Mut zu schreiend, verborgen hielten, so gut es ging, durchschlug eine hinterhältig abgefeuerte russische Kugel den einen Oberschenkel, trat aus ihm heraus, durchschlug einen Hoden, traf auf den zweiten Oberschenkel und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Zwei Meter vor dem Graben ging Willi unter Schock mit einem harten Aufprall zu Boden. Noch im Fallen dachte er „ Mist, verfluchter! Mich hat’s wirklich erwischt, Teufel nochmal! Ich werde impotent und tot aus dem Krieg nach Hause zurückkehren! Mist, verfluchter!“ Es war das erste und einzige Mal, dass Willi fluchte. Wir wußten weder, was impotent bedeutete, noch konnten wir uns unter dem Tod wirklich etwas vorstellen, außer, daß man dann still und starr da lag, ohne zu antworten, wenn man angesprochen wurde. Wir waren noch kleine Kinder, das Leben lag vor uns, und über den Tod kursierten in unserer Familie nur vage Gerüchte. Der Schnee wurde immer röter, Onkel Willi machte es mit den Armen vor, immer weiter kreiste sich eine Pfütze aus. Nach mehr als eineinhalb Metern Durchmesser sah Onkel Willi im Gesicht so blass, so unlebendig aus, dass der ihm am nächsten liegende Kamerad vor Kummer und Schmerz halb aus dem Graben herauskam, laut zu weinen anfing und nicht mehr aufhörte: „Williiii!Williii! Williii! Williii! Williii! Williii! Williii!“
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