Donnerstag, 8. April 2010

Ich wurde geboren als erstes Kind eines Waisenknaben und einer Zahnarzttochter.
Zur Hochzeit im April des Jahres 1955 versammelten sich zwei Familien ( oder, was nach dem Krieg noch davon übriggeblieben war) irgendwo in einem idyllischen sauerländer Fachwerk-Städtchen an einem mickrigen, aber reich mäandernden Flüsschen, welches sich nach vielen anstrengenden Kilometern durch schwermütige, dustere Landschaften erleichtert in den wichtigsten Strom des Kohlenpotts ergießt. In diesem unübersichtlichen menschlichen Ameisenhaufen befindet sich eine von zahlreichen Städten an den Ufern des Flusses. Dort wohnte die Familie Sudstrom. Frau Sudstrom, ältere Schwester meines zukünftigen Vaters, hat ihren Mann im Krieg in seiner Abwesenheit geheiratet; eine „Fernhochzeit“, man schickt unterschriebene Standesamtformulare, Fotos, und alles andere, was so an Nachweisen benötigt wird, hin und her, und wenn das alles mit Stempel versehen ist und jeder Menge anderer Unterschriften in mehrfacher Ausfertigung, erhält nach Wochen des Wartens eine schriftliche Bestätigung, dann weiß man, daß man verheiratet ist.
Lottis Emil kam eines Tages unangekündigt nach Hause, das heißt, Lotti war beim Bettwäsche aufhängen im hinteren Teil des Gartens. Tante Lotti erzählte, wie ihr zumute war, als sie im zugewachsenen Teil des Gebüschs diesen regungslos da stehenden Mann bemerkt, der sie anstarrte. Sie schrie erstmal, was sie konnte. Niemals zuvor im Leben hatte sie Grund gehabt zu schreien, und sie war erstaunt, wie anstrengend diese Tätigkeit ist, wenn man sich so richtig reinsteigert. Nach eineinhalb Minuten, die ihr alle Kraft geraubt hatten, und sie schwer atmend, nach Luft schnappend, völlig erledigt im Gras lag, trat der Mann aus dem schattigen Gebüsch. Sie schloß vorsichtshalber mal die Augen und faltete die Hände. Sie mußte zusammenzucken bei der federleichten, nicht unangenehmen Berührung, die sie auf ihren Handrücken registrierte. Sie ärgerte sich kurz ein bißchen darüber, daß es angenehm war, faßte sich wieder und gab sich Mühe, in ihrer Position zu verharren und stellte sich in etwa tot. Sie hoffte inständig, möglichst unauffällig zu wirken, und, um bloß nichts Einladendes an sich zu haben, war sie mit ihrer finstersten, abweisendsten, verächtlichsten Miene erstarrt. Noch so eine schmetterlingsgleiche Berührung. Wieder augenblickliches Zusammenzucken. Die Berührung war sanft. Lotti lag da, verspannt und kalt, wie ein toter Fisch. Ihre eine Hand spürte einen heißen, schweren Tropfen hinunterrinnen. Er verlor sich auf dem Gelenk. Dann kam noch ein solcher Tropfen, auf die andere Hand. Jemand hatte sich neben sie gekniet. Ihr Name wurde, leise, fragend, ruhig, sehr zärtlich, von tränenüberströmten Lippen, wie sie deutlich fühlen konnte, an ihr Ohr gehaucht. Manchmal gehen solche Kriegsehen nämlich auch gut. Da ging ihr ein Licht auf. „Endlich“, dachte sie. Sie lagen die ganze, aussergewöhnlich klare Nacht engumschlungen mit romantisierten Herzen im nachlässig geschnittenen Gras, zu glücklich, um sich über die Unmengen von Disteln zu ärgern, zu erschöpft von den letzten drei Jahren, um die ungewöhnlich zahlreichen, hell blitzenden Sternschnuppen, irgendwo in der Stratosphäre verglühend, zu bemerken.

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