Mittwoch, 7. April 2010

Meine zukünftigen Eltern heirateten im April. Für die drei Geschwister meiner zukünftigen Mutter brach eine Zeit der Versuche an. Gerd faßte den glühenden Entschluß, ins Kloster zu gehen. Erika versuchte sich optimistisch und voller Appetit als unabhängige Geschäftsfrau in der Großstadt. Inge war irgendwo schwanger im Süden von Frankfurt und versuchte, ohne Dienstboten in einem Reihenhaus zu überleben. Schneller, als für möglich gehalten, gewöhnte sie sich an den Ehemann. Es war ein nahtloser Übergang, vorher war sie gehorsam ihrem Vater gegenüber, am nächsten Tag dem Ehegemahl. Sie fand, es war eine schöne Zeit, und schätzte sich glücklich, dass sie immer jemanden hatte, dem sie gehorchen konnte.
Mein zukünftiger Vater. Er wurde am Rand des Kohlenpotts geboren, lange Jahre war ihm seine familiäre Herkunft unangenehm. Seine Eltern kenne ich nicht: er war ein Waisenkind ohne Mutter und Vater seit er zehn war. Sein ausgeprägtes Talent, lebendig und dramatisch zu erzählen baute er in diesen Jahren immer mehr aus,denn für einen Lehrer am Gymnasium ist es das Kapital schlechthin. Jeder ist lieber bei einem Lehrer, der packend erzählen kann. Je langweiliger der Stoff, desto wichtiger ist es, ihn in müde Oberstufenschüler, die am Abend zuvor zu lange unter Alkoholeinfluß diskutiert und mit wilden Weibern gefeiert haben, reinzukriegen. Zunächst war ich stolz darauf, daß mein Vater der einzige Lehrer weit und breit war, der diese psychologischen Raffinessen mit Riesenerfolg einsetzte. Das änderte sich schlagartig, als ich dreizehn Jahre alt war. Lustig war auch oft, wenn er Gags aus dem Schultag erzählte, deren Pointe für mich als Kind nicht immer sogleich als Witz erkennbar war. Das herzhafte Gelächter meines Vaters konnte allerdings ansteckend sein, und an der Art, wie er lachte, wie er dabei Atem holte, in welcher Tonlage, wie lange es andauerte, und seine Kopfhaltung, gaben mir Aufschluss darüber, warum er lachte. Ob es ein saukomischer Witz war, auf welchem intellektuellen Niveau sich der Scherz befand, ob es sich um eine übermütige Sprachspielerei handelte, oder ob es sich um die schwierigen ging, wo man erst einmal fünf, zehn Minuten überlegen muß, um schließlich schon alleine vor Erleichterung, kapiert zu haben, los zu geiern. Als ich in die Pubertät kam, fand ich seine Späße, von denen ich 98% in all den Jahren vorher zum Schreien komisch fand, und die ich als sein ältestes Kind und damit in seinen Augen also das verständigste Opfer, praktisch zweimal täglich mit tiefster Überzeugung erzählt und vorgespielt bekam, reichlich albern. Daß diese Lebensphase per se eine hochgradig alberne mit Tendenz zu Hysterie ist, kam mir nicht in den Sinn… so frühe Pubertät und so. Der Vorname meines Vaters war Karl. Einige Jahre später in Westafrika entwickelte er ein etwas kokettes Gehabe: er fing an, es wirklich zu lieben, wenn man ihn französisch „Charles“ nannte. Nicht „Tscharls“, englisch. Er hatte die weichere Version gern: „Schahrrrölll“, mit weichem Anfang, mit weichem Ende. Ich war zwölf, als ich das zum erstenmal hörte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen