Sonntag, 11. April 2010

Lotti Sudstrom bekam überglücklich nach einer äusserst unangenehmen, langdauernden und schwierigen Geburt ihr erstes Kind. Benommen von der Anstrengung der vergangenen fünf Tage (so lange hatte es gedauert vom Fruchtblasensprung bis zur kompletten Entbindung) lag sie leichenblass da, als ihr die Ärzte erklärten, sie sei nicht normal, da sie volle fünf Tage benötigt hatten, das Kind aus ihr heraus zu kriegen. Lotti nahm sich zusammen und fragte nach dem Kind. „Der Vater sieht draussen soeben seinen Sohn!“ Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen. Doch erneut richtete sie sich auf: „Ist es…?“ „Vollkommen gesund, voll ausgebildet, alles dran an dem jungen Mann!“ Triumphierend blickte eine burschikose, ihr unbekannte Krankenschwester auf Lotti herab, als sei es ihr persönlicher Verdienst, dass das Neugeborene so topfit war.
Während Lotti ausgepumpt in die Kissen zurückfiel und schlief, ehe sie mit dem Rücken die Bettwäsche berührte, wiegte Emil seinen neuen kleinen Sohn in den Armen. Er hatte wohl ein natürliches Gefühl für Säuglinge, denn niemand mußte dem Offizier zeigen, wie man ein Neugeborenes hält. Die Schwester betrachte die Szenerie einen Augenblick, wandte sich dann gerührt ab. Onkel Emil liebte es, wieder und wieder zu berichten, wie er seinen kleinen ersten Sohn Ulrich zum ersten Mal sah und in die Arme nahm. Emil war so durchdrungen von dem unglaublichen Glücksgefühl, ein Neugeborenes, seinen eigenen Sohn, bei sich zu haben, dass er hemmungslos weinte. Er machte den Kleinen naß mit seinen Tränen, doch der streckte nur zwischendurch mal die winzige Zunge raus, um die Flüssigkeit aufzufangen. Das fand der ohnehin ergriffene Emil derartig rührend, dass er laut weiter weinen mußte. So bestand die erste Mahlzeit im Leben des kleinen Ulrich aus den heißen, salzigen, mit unbändiger Liebe gewürzten Tränen eines überquellenden Herzens. Der zweite Sohn, mein Vetter Hartmut, wurde geboren, als Ulrich drei Jahre alt war. Dieses mal war die Entbindung entgegen allem, was der nervösen Lotti prophezeit wurde wirklich eine leichte Geburt.
Onkel Emil realisierte, dass er nun Vater zweier prächtiger junger Kerlchen war. Der Neue war ein bißchen runzlig und rot, und er hatte auch nicht so dichtes Haar, wie der ältere Ulrich. Emil nahm seiner Frau das Baby ab, bettete es ganz vorsichtig zwischen sie beide, und weinte vor Freude und Stolz. Sie betrachteten mehrere Stunden lang das neue Kind, prägten sich ein, wie es im Unterschied zu dem ersten aussah, denn sie wußten ja, wie schnell sich Neugeborene verändern.
Ulrich wurde nur fünf Jahre alt. Er war so unnormal hübsch, daß wildfremde Menschen näherkamen, um sich an seiner Schönheit zu erfreuen und sich von ihr erschüttern zu lassen. Zudem war Ulrich noch mit der Gabe der weit über dem Durchschnitt liegenden Intelligenz ausgestattet. In einer Bäckerei strich ihm eine fremde Dame, die sich fasziniert auf seine Höhe hinabbeugte, wie in Trance über das dichte, hellbraune Haar, das in sanften Wellen seine Schultern bedeckte.
„Mein Gott,“ murmelte sie, und schluckte, „…wie heißt du?“ Er schlug sittsam die Augen nieder, umrahmt von den längsten Wimpern mit dem perfektesten Schwung, zog dann leicht, raffiniert dosiert, die halbmondförmigen Augenbrauen hoch, holte den Blick aus träumerischer Ferne genau in den Fokus der ihn anstarrenden Dame :
„Gisela!“ flötete er mit einer Koketterie und mit einer seinem Alter unangemessenen Portion Erotik, daß alle Anwesenden merklich tief Luft holten. Manche angenehm, manche unangenehm in den abgründigsten Tiefen ihrer geheimsten Sehnsüchte berührt, vielleicht erinnert an unanständige, verbotene Gelüste. Tagelang noch waren sie aus der Bahn geworfen, unentschieden, hin- und hergerissen ob dieses erstaunliche, überirdisch schöne Kind nun ein reiner Engel, über alle Bosheit erhaben, unschuldig, wie jedes Kind, sei, oder direkt aus der Hölle geschickt, um Verführung und Verderben zu bringen in der Verkleidung eines Himmelsgeschöpfes. Nach dem ersten Schreck erholten sich die Erwachsenen erfahrungsgemäß ein wenig, und es setzte der Prozess der Schuld-Selbst-Zuweisung ein: wer so schmutzige Gedanken hat beim Anblick eines so reinen Kindes, sollte der sich vielmehr nicht selbst anklagen? Sich schuldig fühlen wegen seiner Verdorbenheit?
Ulrich wurde schwer krank. Die Ärzte konstatierten Lungenentzündung in fortgeschrittenem Stadium, und konnten nichts mehr für den Jungen tun.

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