Dienstag, 6. April 2010

Für den feingliedrigen, etwas überkandidelten , fest im katholischen Glauben verwurzelte Zahnarzt, (er bestand bei jeder Mahlzeit auf weiße Tischwäsche mit allen drum und dran), bedeutete die seit zwei Monaten erwiesene Eheuntauglichkeit Inges weit mehr, als nur ein für alle weithin sichtbares Makel. Als studierter Mann, griechisch, latein, Theologie, alles neben Medizin/Zahnmedizin, begriff er sofort hinter seiner emotionalen, sozialen und katholischen Lähmung, daß von nun an nichts mehr so sein würde, wie früher. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er jemals wieder seinen Patienten unter die Augen treten sollte.
Wie macht man das noch..wie ist das noch gewesen mit der Meditation..wie haben Zehntausende von Mönchen über viele Jahrhunderte..Konzentration..auf eine Fliege, auf einen Punkt..Die der Falle und dem sicheren, klebrigen Tod eilig zustrebenden Insekten sind so… schamlos…oder ist es gar unschuldig… vielleicht ein bißchen wie Erika und ihr..so nach dem Motto, denn sie wissen nicht, was sie tu..nun, jetzt geht es aber zu weit!..also, was machen die Fliegen denn da!?..Erregt vor Zorn, mit wild fuchtelnden Armen, springt der Zahnarzt auf, alle sind erschrocken und verstummen mit einem Mal, wie sollen sie denn ahnen, dass seine gepeinigte Seele versucht, den letzten Rettungsanker zu ergreifen. Sie wundern sich zwar, was die Heftigkeit des Ausbruchs angeht. An seine divenhaften Launen sind sie aber gewöhnt. Es ist wie sonst. Nur ein bißchen mehr. Und nach fünf Minuten Atemanhalten geht das plappernde Geschwätz am Familientisch weiter. Das Leben geht weiter. So war es immer.
Alles braucht seine Zeit. Meine Tante Erika wurde in Ausübung ihrer Tätigkeit als freundliche Wurstverkäuferin immer besser. Lebhaft schilderte sie mir, wie nach zwei Monaten und etlichen Kilos mehr auf den Hüften, ihr die Vermieterin anbot, den Stand voll und ganz zu übernehmen. Das Leben und die Männer im insbesonderen hatten es nicht immer gut mit ihr gemeint. Natürlich war sie hocherfreut. Der eigene Wurststand, am Haupt-Bahnhof. Sie sah sich als Eigentümerin eines volkswirtschaftlich aufstrebenden Betriebes mit glänzenden Zukunftsaussichten. Sie sah sich in den Armen eines ehrlichen, fleißigen und einfachen Arbeiters : er, wie er sich morgens zur Schicht mit einem Kuss auf die Wangen von ihre verabschiedet, sie, wie sie lächelnd im Frühnebel ihr eigenes Wurstmobil aufschliesst. Allein die Vorstellung gab ihr eine Ahnung von dem Sicherheitsgefühl, von der Geborgenheit, die sich sich so ersehnte. Zu dem frühen Zeitpunkt hatten ihre weißen Finger bereits Grübchen, nur sahen sie damals noch herzig aus. Niemand dachte sich was dabei. Ein Jahr später war sie kaum wiederzuerkennen. Mein Onkel Gerd, der aus dem anderen Ei gekommen war, war mit seinen Gedanken noch bei der hübschen Kundin, der er am Morgen einen Lippenstift verkauft hatte.
Im Grunde seinens Herzens wußte niemand so gut, wie Gerd selbst, wie verloren er sich auf dem Posten des Augenbrauen- u. Lippenstifthändlers vorkam. Ein halbes Dutzend Jahre später wurde ihm im Nachhinein klar, warum er damals zum Scheitern verurteilt war. Es waren theologische Gründe. Je weiter er mit seiner Lehre kam, je näher die Drogistenprüfung ins Haus stand, desto unwohler fühlte sich Gerd in seiner Haut. Wie so manches andere Familienmitglied hatte auch er keinen ruhigen Schlaf. Besonders fasziniert sperrte ich die Ohren auf, wenn er mir von seinem immer wieder kehrenden Albtraum berichtete. Im Traum drehte er regelrecht durch: es ging immer wieder um überdimensional große Lockenwickler und Lippenstifte, die er einsam und allein in Schwerstarbeit über reißende Wasserfälle und durch glühende Wüsten zu transportieren versuchte.
Er erwachte morgens zwei Wochen vor seiner Drogistenprüfung als neuer Mensch. Was genau ihm der Himmel mitgeteilt hatte, blieb immer sein Geheimnis. Nur soviel: nach einer ausgiebigen Waschung mit kaltem Wasser und einem Gebet auf Knieen stelzte Gerd erfüllt mit der Ruhe des Herrn auf die andere Strassenseite, zur Drogerie Egel. Wenige Minuten später war es vorüber. Er hatte gekündigt, dem verwirrten Herrn Egel erklärt, von nun an werde er, Gerd, Gottes Werkzeug auf Erden sein, holte sein weniges Erspartes von der Bank, und während sein Vater mit seiner einen Schwester versuchte, einem strampelnden Sechsjährigen einen Abdruck seine schiefen Zähne abzunehmen, kam Gerd aus dem Musikinstrumentegeschäft heraus, unterm Arm ein großes Paket, länglich und breitlich, auf den Lippen ein zufriedenes Lächeln. Freudig zugenickt hat ihm dabei das Fräulein Rosenstengel, hochmusikalisch, und deswegen ein bißchen schusselig. Sie war soeben im Begriff die Tür des Geschäfts, wo sie ihre bestellten Noten abholen wollte, zu öffnen, als sie mit Gerd auf der Schwelle zusammenstiess. Mit dem Blick der langjährigen, alleinstehenden Expertin erfaßte sie, was er da für ein Schätzchen mit sich trug. Sie nannte ihm nach einer Sekunde die Marke der Gitarre, deren Handhabung und wie sie am effektivsten und akustisch schönsten zu stimmen sei. Gerd war enorm beeindruckt, dass sie einen Röntgenblick besaß, da das Instrument doch in eine Hülle aus Stoff, und noch in diverse Verpackungen gekleidet war. „SIE also auch,“ murmelte er demütig. Sie streifte die Verpackung leicht mit der Hand und entgegnete sanft, mit einem unmerklichen Nicken : „Ja.“ Die Sache mit dem Fräulein Rosenstengel wollte ich immer wieder und wieder hören, und bettelte Onkel Gerd an, sie mir noch einmal zu erzählen.

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