Sonntag, 25. April 2010

Es war abzusehen, dass der Opa es nicht mehr lange machen würde, und so erhielt er besonders starke Schmerzmittel, auch Opiate. Weil er sein Rezept verloren hatte, begann er, in der Apotheke zu randalieren. Es war nichts zu machen, der Opa bekam sein Zeug nicht. „Dann bleibe ich hier in alle Ewigkeit sitzen!“ drohte er. In seiner Verzweiflung rief der Apotheker meinen Vater, er solle sofort seinen Schwiegervater aus dem Laden holen. Weder gutes Zureden, noch Appelle an Opas vernebelte Vernunft wirkten. Schließlich gelang es meinem Vater, ihn zu überlisten. Er verließ kurz die Apotheke, um sie erneut in einer völlig anderen Art zu betreten. Mit dröhnenden, weitausholenden Schritte, geschwellter Brust und einer Schützenfestkappe auf dem Kopf, polterte er zum Opa, baute sich dick und fett und wichtig vor ihm auf, riß den Arm hoch und gröhlte mit laut mit rauher Stimme einen Militärgruß. Prompt stand der Opa stramm, ebenfalls den Arm hochgeschleudert, den Gruß brüllend, den Spazierstock als Gewehr geschultert und folgte mit zackigem Stechschritt meinem Vater unverzüglich aus der Apotheke. Fünf Jahre später brachen wir in diese Apotheke ein. Wir hatten auch kein Rezept gehabt.
Als es mit dem Opa immer schlimmer wurde und niemand ihn mehr zu zähmen vermochte, verfrachtete man ihn unter Wehgeheul nach Niedermarsberg ins Irrenhaus. Am folgenden Samstag fand sich eine lange Schlange Absolutionssuchender in der katholischen Kirche ein. Massive Gewissensbisse aufgrund der Erleichterungsgefühle beim Abtransport des kleinen Opas (der ausgerechnet bei dieser Gelegenheit zu seiner früheren Freundlichkeit, Förmlichkeit und Umgänglichkeit zurückgefunden und sich von allen noch artig verabschiedet hatte) brachte inakzeptable Schlafstörungen wegen beißender Gewissensqualen über die halbe Einwohnerschaft.
Anfang der Woche gelang dem kleinen Opa die Flucht aus der Anstalt und er wurde nach Hause gebracht. Man hatte ihn ohne Fahrkarte im Zug aufgegriffen. Wenige Tage später war er tot.
Die geheime Beziehung zu meinem Vater empfand ich immer als etwas Besonderes. Dass mein Bruder dieses Gefühl ebenfalls hegte, und hinter meinem Rücken versuchte, meinen Vater auf seine Seite zu ziehen, begriff ich instinktiv aus Angst vor Verlust. Ich war das erste Kind meiner Eltern, mein Bruder mit dem hochtrabenden Namen Karl Martell das letzte. In der Mitte war meine Schwester Henrike. Mit forschreitendem Alter entwickelte mein Vater ein schlechtes Gewissen, er glaubte, mit dem mittleren Kind nicht solche Heimlichkeiten gehabt zu haben, wie das bei meinem Bruder und mir der Fall gewesen war: die Exklusivität der Beziehung brachte mich manchmal um den Verstand, so stolz war ich darauf, und eifersüchtig hütete ich „unser“ Geheimnis. Es begann damit, dass ich mit eineinhalb Jahren eine Begabung für das Sprechen zeigte. Ohne Babyakzent nachplappern konnte ich ausgezeichnet, und so wurde ich, für sprachbegabt gehalten, in einem streng-liebevollen Privatkurs für die lateinischen Bezeichnungen der heimischen Pilzwelt interessiert. Trafen wir zufällig im Wald Bekannte meines Vaters, - es gab niemanden, den er nicht kannte als Studienrat des einzigen neusprachlich orientierten Gymnasiums für Jungen im Umkreis von dreißig Kilometern, - erhielt ich ein Stück Schokolade, wenn ich einen nach Erde und Wald duftenden Pilz mit seiner korrekten lateinischen Bezeichnung zu benennen wußte. Geschmeichelt und scharfgemacht nach Schokolade lernte ich möglichst schnell möglichst viel auf diesem Gebiet. Wenige Wochen später kannte ich sämtliche Pilze auf lateinisch und deutsch, welche waren giftig, ungenießbar, genießbar, welche galten als 1-A-Speisepilze für die Höhere Kochkunst eingeweihter Gaumen, und welche Standorte bevorzugten die Gewächse zu welcher Jahreszeit bei welcher Niederschlagsmenge. Je detaillierter meine Antwort, desto leckerer und größer die Belohnung. Manchmal gab’s eine Umarmung, ein Streicheln, ein Händedruck, ein Küßchen. Wenn dann noch die Zauberworte „Papa’s Mädchen bist du!“ gesprochen wurden, war ich selig. Bevor ich die Pilznamen lernte, war ich „Unart“. Ich wußte nicht genau, was unartig war, nur soviel: wenn ich es war, wurde ich nicht gelobt, nicht in den Arm genommen, nicht so beachtet, wie ich es mir wünschte. Tat ich etwas, das das Mißfallen meiner Eltern erregte, sagten sie in barschem Ton mit gerunzelter Stirn im unfreundichen Gesicht, den drohend Zeigefinger erhoben, von oben auf mich herab: „Du Un-Art, du! Nicht tun! Unart bist du!“ Das sagten sie so oft zu mir, dass ich glaubte, dies sei mein Name. „Wie heißt du denn, Kleine?“ „Unnat!“

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