Mittwoch, 28. April 2010

Die Schulzeit. Bei Fräulein Tröster im ersten Schuljahr: alles glatt. Am Ende des Schuljahrs hatte ich auf dem Zeugnis „Sehr gut“. Es gab nur eine einzige Note für alles. Ich lernte mit knirschenden Griffeln schreiben auf einer kleinen grauen holzgerahmten Schiefertafel, die mit einem nassen Schwämmchen ab gewaschen und mit einem von einer Tante oder so selbstgehäkelten Tafellappen trocken gewischt wurde. Die Tafellappen hingen seitlich an gehäkelten Schnuren aus dem Tornister heraus. Im ersten Schuljahr als I-Dötzchen durften wir nach vorne zum Lehrerpult kommen, und unsere neuen Kleider präsentieren, wenn wir welche bekamen. Fräulein Tröster war, wie ihr Name aussagt, nicht verheiratet, und zum Glück sehr kinderlieb. Im zweiten Schuljahr änderten sich die Dinge. Erstens: die erste türkische Familie zog in unseren Ort, und Türken hatte man bis dahin noch nicht gehabt. Ausländer gab es im Ausland, ausserhalb des Sauerlandes. Ein Schneider wohnte nun mit Frau, Tochter und Sohn im zweiten Stock neben der Drogerie Egel, genau gegenüber der Zahnarztpraxis meines Opas.
Mir gefiel das Mädchen auf Anhieb, ich fand sie wunderschön mit den dunklen Augen und den weich über die Schultern fallenden Locken. Sie kam in meine Klasse, aber ich hatte Ischlal als erste kennengelernt, ich hatte als erste, vor allen anderen Kindern, Kontakt mit dem Wesen aus der Fremde aufgenommen, und als sie in meine Klasse kam, konnte ich sie stolz, als hätte ich neue Schuhe, vorzuzeigen, den staunenden Mitschülerinnen präsentieren. Meine Freundin! Eifersüchtig schirmte ich Ischlal, die Hübsche, vor allen anderen Kindern ab. Kürzlich hatten meine Eltern fünfhundert Mark im Lotto gewonnnen, und wir bekamen unser erstes Fernsehgerät. Seit Tagen regnete es Bindfäden, so hockten Ischlal und ich nachmittags zur Kinderstunde „Basteln mit Erika“ vom Bayerischen Rundfunk im ersten und einzigen Programm vor dem Apparat. Die Zusammenstellung der einzelnen Sendungen steckte noch arg in den Kinderschuhen. Im Anschluß an „Basteln mit Erika“, wo wir praktisch nichts von verstanden, weil auch schon die kleinen Kinder so furchtbar bayerisch sprachen, atmeten wir auf. Es war geschafft. Diese Sendung fand ich immer tödlich langweilig und anstrengend, aber die Erwachsenen meinten, diese Sendung sei gut für die Entwicklung von Kindern, und weil sie ja auch immer stöhnten, dass sie so viel für uns täten, nahm ich es mit zusammengebissenen Zähnen auf mich, „Basteln mit Erika“ durchzustehen. Es war beinahe so, wie in der Sonntagsmesse in der Kirche. Da darf man auch nicht einfach mittendrin rausgehen, weil es einem zu langweilig wird. Nicht mal, wenn man aufs Klo muss. Kinder müssen lernen, sich zu beherrschen. „Basteln mit Erika“ war zu Ende. Nun wurde es interessant. Eine rundliche Tänzerin wiegte sich zu den klagenden Tönen einer orientalisch anmutenden Musik, zumindest stellte ich mir vor, dass sie in Orient, was immer auch dieses „Orient“ für ein fremdes Land war, solche Musik machten. Unvermittelt hörte ich, wie meine Mutter Ischlal gezielt ansprach und deutlich mehrere Worte in einer mir unbekannten Sprache sagte. Ischlal blickte überrascht auf, antwortete sofort in ihrer Sprache, und hörte nicht mehr auf. Zum ersten mal hörte ich zusammenhängende Sätze in einer fremden Sprache, melodiös, klangvoll, ungewohnt für mein Ohr, ich schloß halb die Augen, die Sprachmusik ergoß sich in mein aufnahmebereites Herz. Die neuen Laute, wohlgemerkt, die Laute, nicht die Worte, prägten sich mir ein. Und meine Mutter sah ich mit ganz neuen Augen. Später, als Ischlal gegangen war, wollte ich beeindruckt wissen, was meine Mutter da gesagt, und woher sie die Worte hatte. Sie hatte die einzigen türkischen Worte gesprochen, die sie kannte: Dicke Frau. Mir war das viel länger vorgekommen, als nur diese beiden Worte. Sie konnte sich nicht mehr entsinnen, bei welcher Gelegenheit sie die Worte gehört hatte. Lediglich diese beiden hatte sie behalten, und auch niemals vorher sich ihrer erinnert. Erst, als sie die Tänzerin im Fernsehen sah, kamen sie ihr wieder in den Sinn. Kurze Zeit später waren sie ihr wieder entfallen, und nach einigen Monaten hatte sie das Ereignis vollständig aus ihrem Gedächtnis verloren.

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