„ Erstaunlich. In ein paar Jahren wirst du wieder gehen können. Es war nicht nötig, sie zu amputieren.“ Was hatten sie denn dann amputiert? „Was haben sie denn dann amputiert?“ Onkel Willi krächzte vor Anstrengung, er hatte all seinen Mut zusammengenommen für diese Frage und war sehr darum bemüht, seinem Tonfall Gleichgültigkeit zu verleihen. Schweigen. Dann räusperte sich die Stimme, und Onkel Willi wurde noch schwindeliger, denn er merkte sofort die kleinen Wackler in der Aussprache, die sich um Fassung bemühte. „Äh,…nun…es war erforderlich,..ahem, ..einen Hoden..zu entfernen, Kamerad. Du wirst dein drittes Bein nie wieder einsetzen können, Kumpel. Wirklich, einen Schutzengel hast du…-“ Die Stimme sprach noch ein bißchen weiter, doch das bekam Onkel Willi nicht mehr mit. Übermannt von Angst ließ sich einfach fallen, indem er die Augen schloß und sich von dem feinverzweigten, roten Fädchennetz vor rosa-beigen Hintergrund faszinieren ließ. Im Mittelpunkt des Pulsierens verdichteten sich die Farbstrudel zu einem zittrigen Bild, das deutlich Form gewann. Überzeugend gab Onkel Willi wieder, wie er seine Frau Mariechen mit dem pausbäckigen erstgeborenen Sohn Gottfried auf dem Arm vor sich sah. Das Baby besass herzige Grübchen auf den dicken Fäustchen, die eine Schnur mit einem sonnengelben Luftballon dran umklammerten. Sie sahen so – gesund aus. Niemand anderes hatte Willi je so herzlich angelacht, so angestrahlt, und sie winkten ihm zu. Sie strahlten und winkten immer noch, als der Sonnenball unvermittelt heftig platzte, so laut, dass Willi auf seinem harten Lager zusammenzuckte. Dann verschimmerte die Vision als letzte Sonnenstrahlen auf unruhigem Wasser. Willi versuchte, ihnen nachzuwinken, bevor sie vollkommen verschwanden. Dass es ihm gelang, tröstete ihn ein wenig, und trotz seiner Furcht fiel er in tiefen und heilsamen Schlaf. Onkel Willi war ein lebhafter Erzähler, er liebte es, wenn wir alle um ihn herum versammelt da saßen und die Ohren spitzten.
Onkel Willi wurde für kriegsuntauglich erklärt. Man päppelte ihn hoch, bis er sich wieder so weit erholt hatte, um die lange, unsichere Heimreise anzutreten. Wir konnten gut nachempfinden, wie froh unser Onkel Willi gewesen sein muß. Im späten Vorfrühling, die Amseln und Singdrosseln zwitscherten schon munter als Begrüßungskommando, schloss Willi seine Frau und seinen kleinen Sohn vor dem lustigen Haus in die Arme. Sein Schutzengel nahm sich Willis noch einmal mit besonderer Zuneigung und Sorgfalt an. Im Spätsommer konnte Willi nicht nur wieder gehen, nein, auch sein Sohn würde nicht das einzige Kind bleiben. Mariechen war schwanger mit dem zweiten Kind. Sie fühlten sich wirklich gesegnet.
Irgendwann als kleines Mädchen erfuhr ich, dass sie gar keine richtigen Christen waren. Sie waren evangelisch. Das war so wie heidnisch. Ich brauchte Zeit, um den Schreck zu verdauen. Ich fing an, mich zu fragen, ob die Dinge so sind, wie man es mir beigebracht hatte, dass sie sind.
Von den mich umgebenden Erwachsenen hatte ich zu zweien eine tiefere Beziehung: zu meinem Vater und zu meiner Oma. Die pummelige Mutter meiner schlanken Mutter hatte was rebellisches an sich. Sie fühlte sich hingezogen zum Fahrenden Volk, das ist nicht normal..sie war unordentlich bis zur Schlampigkeit, es kam auch vor, dass sie sich nicht um Konventionen scherte, ganz im krassen Gegensatz zu ihrem Ehemann, dem Zahnarzt. Meine Oma liebte ich wegen dieser Rebellenader und ich begriff erst viel später, dass es sich nur um eine der zahlreichen Ausprägungen ihrer Großzügigkeit handelte. Für die beiden muß ihre Ehe die Hölle gewesen sein. Irgendwann fingen sie an, Freude daran zu empfinden, sich gegenseitig zu demütigen. Bösartig versteckte die Oma die Serviettenringe, die für den Mittagstisch vorgesehen waren, erfreute sich an der Wut hinter seinen beherrschten Gesichtszügen, und hoffte auf eine Steigerung, indem er die Beherrschung verlieren möge vor Dienstmädchen und Kindern. Zu ihrer Enttäuschung hatte er sich im Griff und entglitt nicht eine Sekunde. Täglich liess sie sich andere Streiche einfallen, um sich daran zu ergötzen, wenn er die Fassung verlöre.
Donnerstag, 22. April 2010
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