Dienstag, 4. Mai 2010
Ohne links und rechts zu kucken rannte ich mit zwei neuen leeren Zigarrenkisten über die Fahrbahn, als mich eine kreischende Omastimme zusammenfahren ließ: „Dasis veboten! Du biss ohne zu kucken übba de Strasse gerannt, dafür kommt man ins Gefängnis, wachte ma, wenn de Bollizei dich sieht, dann kannze waserlebn!“ Ich blickte mich nicht um sondern nahm die Beine in die Hand und rannte, was ich konnte angsterfüllt auf das auf der anderen Strassenseite zu, mraste die Treppe hoch und versteckte mich mit bis zum Hals klopfenden Herzen im Wäschekorb. An diesem Tag begann meine lebenslang anhaltende panische Furcht vor Bullen, und außerdem lernte ich in frühen Kindertagen die Lust mancher Mitmenschen am Denunzieren kennen. Die noch den Duft irhres früheren Inhaltes verströmenden Zigarrenkisten füllte ich mit meiner Sammlung Lackbilder, manche sagten „Glanzbilder“ dazu. Am liebsten waren mir die mit silbernem Glitter verzierten, sie waren jahrelang Teil meines Schatzes, ebenso, wie meine Glasknicker. In anderen Gegenden sagten sie dazu „Murmeln“. Angefangen hatte ich mit einigen billigen „Tonern“; wie der Name sagt, aus Ton gefertigt und bemalt mit billigen Farben, die bei Feuchtigkeit abfärbten. Mit dem Rot eines „Toners“ schminkte ich mir mit vier zum ersten Mal die Lippen rot. Als ich aber mit rosa lackierten Fingernägeln nach Hause kam, gab es ernthaft Ärger. Kleine Mädchen meines Alters hatten sich gefälligst ruhig zu verhalten und sich nicht zu schminken! Aus den blöden Tonern wurden nach wenigen Spielen dann „Glaser“; endlich besaß ich auch ein paar der schönen Glaskugeln mit den bunten, psychedelischen Mustern im Innern, auf die ich völlig verrückt war und die ich beim Spiel anderen Kindern abluchste, das war die allgemeine Bezeichnung für Gewinnen. Meine Mutter nähte mir zwei Beutel aus Stoff für meine Glaser. Alte Pralinenchachteln dienten als Aufbewahrung für alle möglichen bunten Papierschnitzel, wobei mir bei weitem am allerschönsten die in kreischenden Farben gehaltenen Folien von Eiskonfekt vorkam. Ich liebte nicht nur den schokoladigen schmelzenden Inhalt der raffiniert zu kleinen Bechern gefalteten Folien, sondern die Verpackung als solches, die ich sorgfältig auseinande zog, mit der Zungenspitze sauber ableckte und mit schweren Büchern zu einem Rund plattdrückte. Besonders das Türkis und das Cyclam-Pink entzückte mich über die Maßen, stundenlang spielte ich damit im Sonnenlicht und erfreute mich nur am Leuchten der klaren Farben. Was mich sonst noch seit ich denken kann verzauberte: Blumen, Kieselsteine, Vogelfedern, fein bestickte Taschentücher, Parfums, Schuhe, insbesondere Lackschuhe, fremdartig aussehende Menschen, und lange Haare. Bedauerlicherweise schnitten sie mir mit fünf meine langen honigblonden Zöpfe zu einer modischen Kurzhaarfrisur, weil meine Mutter meinte, das sei praktischer. Als ich dann später noch eine Zahnklammer oben und unten und meine erste Brille bekam, fühlte ich mich vollends häßlich. Manchmal verbrachte ich ganze Nachmittage in einer Wiese, mit einer Mütze auf dem Kopf, unter die ich mir aus ausgerupftem Gras geflochtene Zöpfe steckte.
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