Dienstag, 18. Mai 2010

Gegenüber dem Neusprachlichen Mädchenlyzeum, einer Nonnenschule, die ich nun besuchte, getrennt durch den Stadtkern im Tal, befand sich, ebenfalls auf halber Höhe, das ebenfalls neusprachliche Gymnasium für Jungen, an dem mein Vater unterrichtete. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Gymnasium und Lyzeum? Ich hatte zum erstenmal englisch und merkte, dass mir Sprachen Spaß machen. In Mathematik und dem Rest der naturwissenschaftlichen Fächer tat ich mich immer schwerer. Auch den Umgang mit den Nonnen fand ich schwierig. Zur Freundin erwählte ich mir, wie immer, das hübscheste Mädchen unserer Klasse, sie kam zum Entsetzen der frommen Schwestern am ersten Schultag als einzige nicht im Rock. Ihr Name war Ute Dunkel. Sie trug eine hellblaue Hose, hatte ein hellblaues Haarband um ihr blondes, schulterlanges Haare mit einer feinen Aussenrolle geschlungen.Obwohl sie äußerlich wirkte, als käme sie aus der Großstadt, wohnte sie mit ihren Eltern in Ottfingen, einem kleinen Dorf ungefähr zwanzig Kilometer von meinem Städtchen entfernt. Ute war ein Einzelkind. Ihre kleine, zierliche Mutter galt in ihrem Nest als die „Dorfschöne“, wie Ute mir mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme berichtete. Sie trug die höchsten Stöckelschuhe, die ich bis dahin je gesehen hatte, die dazu passende Frisur und das passende Make-up: auf dem Oberkopf bestimmt fünfzehn Zentimeter hoch toupiert, mahagonifarben, hellrosa Lippenstift, grünen Lidschatten und perfekt nach außen geschwungenen, schmaler aufgetragenem Lidstrich, in einer gewagten Spitze endend. Ganz Ottfingen drehte sich nach ihr um, wenn sie graziös zwischen den Kuhfladen her stolzierte. Mir imponierte an Ute, dass sie nicht, wie alle anderen, in Rock oder Kleid kam zum ersten Schultag kam. Sie wurde von Schülerinnen wie Lehrerinnen gleichermaßen befremdet angestarrt. Die Art, wie sie es, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, völlig gleichgültig, mit erhobenem Kopf, hinnahm, fand ich umwerfend. Das hätte ich nicht so stolz ertragen, dachte ich bewundernd, und beschloss, solch eine Haltung zu lernen. Ich befreundete mich mit ihr und durfte sogar ab und zu nach der Schule mit dem Bus zu ihr nach Hause mitkommen und bei ihr übernachten. Zusammen machten wir die Hausaufgaben und lernten ein bißchen, etwa im neuen Fach Biologie alles über „Das Haushuhn“, über welches wir am nächsten Tag einen kleinen Vortrag halten mußten.

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