Im dritten Schuljahr hatte ich zum ersten Mal ein „Befriedigend“, in Rechnen, das hatte es bis dahin nicht gegeben. Daß ich in dem neuen Fach „Schön schreiben“ mit einem richtigen, blau-silbernen Patronenfüller (Marke „Pelikan“, die grundsätzlich mehr Anhänger hatte, als die türkisgrüne Konkurrenz „Geha“), mit blauer Tinte in ein liniertes Schönschreibheft bei Herrn Padberg eine glatte Eins (hier fiel die rote Tinte angenehm auf) erzielt hatte, blieb unbeachtet. Frau Schulte wollte die Unterschrift beider Eltern unter all dem Rot sehen. Mein Vater war mit Zähneputzen beschäftigt nach dem Mittagessen. Kleinlaut hielt ich ihm das aufgeschlagene Heft zum Unterschreiben vor, auf den Klodeckel. Er nahm das Heft in die Hand, starrte mit demonstrativem Ärger und jeder Menge Unverständnis auf die vier bedrohlichen Worte unter der schlechten Note und sah mich enttäuscht an. „Was ist das denn?!“ hub er an. Die Enttäuschung in seinem Gesicht zusammen mit seinem fremden Tonfall bewirkte in mir sofort ein Gefühl der Kleinheit. Ich fühlte mich furchtbar. Ich hatte versagt. Richtig versagt. “Muriel arbeitet sehr flüchtig“ las mein Vater mit akzentuiert gesetzter Betonung theatralisch vor. Was war das eigentlich, „Flüchtig“? Zu fragen wagte ich nicht, aber ich glaubte, zu verstehen, daß man in so einer Situation gerne flüchten würde, - oder? Offensichtlich bedeutete dieses Wort etwas ganz furchtbar Grauenhaftes. Ich ließ den Kopf hängen. Mit strengen Blicken setzte mein Vater seinen Namen unter diesen Beweis des Versagens. „Niemals wieder will ich so was sehen!“ er gab mir das Heft und schickte mich zu meiner Mutter, die sehen sollte, was ich da Übles fabriziert hatte, und dies durch ihre eigenhändige Unterschrift bezeugen sollte. „Nie, nie, nie wieder, hastedas auch gehört!?“.
Barbie-Puppen haben ihren Preis, und da ich nie Geld hatte, überredete ich den gutmütigen Onkel Gerd, der inzwischen massive Zweifel am Sinn des Klosterlebens entwickelte, mit mir ins Spielzeuggeschäft zu gehen. Sein kleiner Geldbeutel erlaubte immerhin die Anschaffung einer „Petra“-Puppe, und da „Petra“ ebenfalls diese dürren Beine, die Wespentaille, vor allem aber die Brüste besaß, auf die ich so scharf war, trug ich das Päckchen erwartungsvoll nach Haus, wo ich sofort im Keller verschwand. Nach und nach besaß ich einen Harem von fast einem halben Dutzend nackter, gewagt geschminkter Tempeltänzerinnen, mit interessantem Schmuck an interessanten Körperstellen. Die sechs Time-Life-Bände über Kunst und Kultur, von Ägypten bis in die Gegenwart, fesselten meine Aufmerksamkeit. Die Abbildung der Mumie von Pharao Ramses dem Zweiten hatte es mir besonders angetan, so lag es nahe, mich für die Kunst des Mumifizierens toter Körper zu begeistern. („…mit Haken das Gehirn durch die nächste, natürliche Öffnung entfernen: durch die Nase; anschließend die Innereien aus der Bauchhöhle…“) .
Montag, 17. Mai 2010
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