Montag, 24. Mai 2010

Ich war zwölf, als die Familie nach Niamey, Westafrika, zog für die nächsten zwei Jahre. Es kam mir vor, wie ein Neubeginn, der Start in eine neues Leben in einem unbekannten Land; vielleicht ließ dieses Land nicht zu, dass ich weiterhin so falsch, so gar nicht richtig war, und dass ich fast immer das Gefühl von Fremdheit, von Nicht-dazu-gehören hatte. Eine schlimme Erfahrung war für mich der Streit um das Fahrrad gewesen. Im Sommer, als ich zehn war, bekam ich ein knallrotes Fahrrad, mein liebster Besitz. Am Tag vor der ersten Italienreise mit der ganzen Familie sah ich Sigrid Nebeling, meine ärgste Feindin, demonstrativ langsam, in Spiralen fahrend, auf meinem neuen Fahrad, immer hin und her vor unserem Haus. Laut aufschreiend stürzte ich mich auf sie, haute sie von meinem Besitz runter und verpaßte der am Boden liegenden einen wütenden Tritt vors Schienbein. Sie mußte ins Krankenhaus gefahren werde. Dort zogen sie mit speziellen Instrumenten bei örtlicher Betäubung den fingerdicken Splitter meiner Holzschlappen heraus. Zur Sicherheit verpaßten sie ihr noch eine Tetanusspritze. Meine beschämten und erbosten Eltern gaben dem kreischenden Sigrid den Beutel mit meinen Lieblingsbonbons, den die Mutter meiner Freundin Anita mir als Reiseproviant geschenkt hatte. Erdbeer-Sahne. Ich mußte zur Strafe wieder mal sofort ins Bett, obwohl es ein schöner Sommertag war und alle Kinder draußen spielten. Die Rolladen wurden dicht heruntergezogen. Nach drei gräßlichen Stunden Grübeln, Wut und dem Gefühl des Alleingelassen-Seins eröffnete mir meine Mutter, dass nun alles aus sei. Sie würden morgen die Reise nach Italien ohne mich antreten. Ich würde ins Heim für schwer Erziehbare gesteckt, das hatte ich nun davon. Ich glaube, das war das erste mal, dass ich ernsthaft, nicht zum Spaß, daran dachte, mich allem zu entziehen. Ich kann sowas nicht. Ich bin nicht geschaffen, zu leben, wie ihr es tut, ging mir durch den Kopf, ich kann nicht bringen, was von mir erwartet wird. Ich will nicht die Pilze auf latein können, ich will nur so, zum Spaß klettern, ich will auch keine Eislaufprinzessin sein, ich will einfach nur so Schlittschuhlaufen, wie ich gerade will, und ich muß auch keine Medaille in 100-Meter-Lauf gewinnen, ich will nur so zum Spaß rennen. Im Kopf schrie ich laut. Über die Lippen brachte ich keinen Ton. Vor meinem geistigen Auge lief ein quälender Film. Ich fühlte mich elend. Und Sigrid Nebeling nehme ich mich mal richtig vor, bei der nächsten Gelegenheit. Die ergab sich erst fast vierzig Jahre später, ich sah sie in der U-Bahn, sie saß mir gegenüber. Sie machte einen altgewordenen, müden Eindruck, hatte aber noch das selbe Gesicht. „Das ist Sigrid Nebeling.“ sagte ich meiner Freundin ins Ohr.
„Woher kennst du die Frau?“ wollte sie wissen.
„ Sie hat mal mein Fahrrad genommen ohne mich zu fragen…“
„Wann hattest du ein Fahrrad?“
„Als ich zehn war.“
Nach den Aufregungen der vergangenen Monate ist es endlich soweit. Die beiden Lehrgänge waren absolviert, ein Stapel Sommerkleider für jeden war angeschafft worden von dem Geld, was sie uns zum Ausrüsten der Familie ausgezahlt hatten, das Auto wurde verkauft, passende Mieter für das Haus gesucht, Telefonnummer für zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen, wir von unseren Schulen abgemeldet, Adressen von Mitschülern und manchen Lehrkräften notiert, von Freunden verabschiedet. Seit einem Monat war meine Mutter mit uns allein, mein Vater war bereits in Niamey, um ein Haus für uns zu suchen und unsere Ankunft vorzubereiten. Mit drei Kindern, schwerem Gepäck und leichten Beklemmungen bestiegen wir in Köln ein Propellerflugzeug nach Brüssel. Vor Aufregung kotzten meine Geschwister in der wackeligen Maschine. Ich besah mir in seliger Ruhe die Welt von oben. Unser erster Flug! Das Starten und Landen fand ich am tollsten, und selten sah mich meine Mutter so ruhig und vernünftig, wie sie mir sagte, mit einem misstrauischen Seitenblick zwischen zwei Brechanfällen. Abgehoben lächelnd überstand ich jedes noch so holperige „Luftloch“ ohne Übelkeit, im Gegenteil, ich genoß das Gefühl, zu fliegen, - keinen Bodenkontakt, nur Wolken und Himmel. Von Brüssel kommend, wechselten wir in Paris den Flughafen und stiegen um in eine große Verkehrsmaschine. Das Mittelmeer und die nordafrikanische Küstenlinie ließ sich gut erkennen. Hoch über Algerien bekam ich eine Ahnung davon, was Wüste ist. Die Sahara sah von oben schon so wunderbar aus, wie mochte es sein, sie unter den Fußsohlen zu spüren… Spuren ließen sich ausmachen, als würden die Wüstenwesen stets die gleichen Wege bevorzugen, als seien die Trampelpfade von Anbeginn der Zeit dagewesen, eingraviert in den harten, heißen Boden aus Steinen, Sand, Geröll und Staub: verirren unmöglich mit diesen untrüglichen Wegzeichen. Ich überflog die jahrtausendealten Felszeichnungen von Elefanten, Giraffen, Antilopen. Sie lebten einst genau dort, wo sich jetzt der Mittelpunkt der Sahara befindet.
Brütendheiße Luft schlug uns schwer entgegen. Wir waren gelandet im Nichts, in wuchtigem, tiefen, Rotbraun, unterbrochen nur von hellgrauem Gestein und dornigem Gebüsch inmitten kleiner Inselchen verdorrten Grases. Beim Verlassen des Sabena-Jets hatte ich den Eindruck, durch eine Mauer zu gehen. Ungewohnt dick stand die Luft vor mir. Das Atmen fiel schwer, Hitze erfüllte augenblicklich die aufgeblähten Lungen, erfaßte mit einem Schlag den gesamten Organismus. Dann dieser… Geruch! Das Land schien überzogen mit einer undurchdringlichen Geruchsschicht. Deutschland riecht nicht: Kontinentalklima, Zone gemäßigt; Gerüche entfalten sich nicht so, wie in heißen, tropischen Gegenden. Hitze verstärkt um ein Vielfaches alles, was uns in die Nase steigt. Eingepackt in mehrere Lagen glühender Stoffe aus flimmernder Luft liegt vor mir - Niger. Das Schwarze Land am Südrand der großen Sahara. Steiniges, sandiges Land zwischen ausgedehnten Wüsten, sonnenverbrannten Gras-Savannen, urtümlichen Dornbuschsteppen, merkwürdigen Felsentürmen, und ganz im äußersten Süden, wo die Landesgrenzen bei Dahomey und Obervolta in einer grandiosen, menschenleeren Landschaft bereit sind, in seltenen Jahren hinreichender Regengüsse, dir eine vage Ahnung von Urwald zu schenken, mit raren Ansammlungen sämtlicher Grüntöne dieses Planeten. Interessante, fremd anmutende Organismen bewohnen diese ausgedörrte Feuerwelt, verschmolzen mit ihrem Lebensraum zu einem einzigen Intensivum.
Die Menschen im Flughafengebäude, davor und darauf, waren die ersten Einheimischen, die ich zu Gesicht bekam. Während wir die an die geöffnete Fluzeugtür angeschobene Treppe hinunterstapften, ich mit meinem kleinen Köfferchen, meine Schwester mit Armen voll Puppen, mein kleiner Bruder mit einem Rucksack voll Lego, entdeckte ich in der neugierigen Menge hinter dem Zaun meinen Vater. Er hatte einen Astronautenhaarschnitt und winkte und schrie voll Freude unsere Namen. Meine Mutter verließ als letzte das Flugzeug, sie achtete darauf, daß nichts liegenblieb und schleppte das gesamte restliche Handgepäck. Wir Kinder rannten auf unseren Vater zu, der überglücklich seine Arme weit geöffnet hatte und strahlte. Nach der Paß- und Zollprozedur waren wir nicht mehr durch Sperren getrennt. Das Gepäck wurde getragen von zwei braunhäutigen jungen Männern in europäischer Kleidung und einem rabenschwarzen Mann in einem hellblauen, bodenlangen, ärmellosen Gewand mit Stickereien am Saum. Er lachte mich blendendweiß an, ein kehliges Gurren aus seinem breiten, freundlichen Mund. An der Decke des kleinen Gebäudes rotierten gemächlich riesige Ventilatoren, wie Windmühlen, um die Luft erträglicher zu machen. Irgendwie waren sie, wie Heuwender, sie erfrischten nicht, sie wendeten die schwere, glutheißer Luft nur um.

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