Das kratzte zwar scheußlich und stach und irrsinnig heiß war es in der prallen Sommersonne, aber ohne die Mütze hielten meine prächtigen goldenen Zöpfe ja nicht. Dann und wann kamen Spasziergänger vorbei, die kicherten belustigt (manche wiesen gar mit ausgestrecktem Arm auf mich und tippten sich mit dem Zeigefinger an den Kopf) über ein schwitzendes kleines Mädchen mit verträumtem Gesichtsausdruck und einer wollenen Kopfbedeckung, unter welcher trockene Grasbüschel hevorstachen. Dabei thronte hier im Zentrum ihres Reiches die auf der ganzen Welt für ihre Zartheit, Anmut und Schönheit berühmte Prinzessin – ich staunte oft über die Dummheit der Leute. Das war die Sorte Menschen, die auch nicht in der Lage war, die kleinen Welten zwischen Steinen, im Sand, in Blumenwiesen und vor allem im Moos wahrzunehmen. Moos übte einen besonderen Reiz auf mich aus. Ich legte mich lang auf den Waldboden, auch auf matschigen, um auf den weichen Polstern das Treiben der Elfen, Kobolde, Zwerge und Wichtel zu beobachten, wie sie mit leuchtenden Käferchen bespannte Wagen durch ihre filigrane grüne Welt steuerten, niedliche Zwerge, die mit ihrem winzigen Handwerkszeug kleine Tische und Stühle schreinerten und schelmische Kobolde, wie sie kichernd neue Streiche ausheckten. Am faszinierendsten jedoch fand ich die Elfen, winzigkkleine wunderschöne Jungen und Mädchen mit übergroßen, steingrauen, amethystvioletten oder grasgrünen, lang bewimperten Augen, gekleidet in Hosen, Röcke und Blusen aus Blättern und mit phantastischen Mützen aus Blüten auf wehendem, kniekehlenlangem, schimmerndem Haar. Leise lächelten sie mich an mit ihren Zauberaugen, stille Melodien direkt in mein Herz summend, rätselhafte Symbole ihrer heimlichen Existenz in meine Seele einstreichend und Schmetterlinge waren die Boten, die mir märchenhafte Nachrichten sandten aus dem Reich der Moose und Steine. Daß sich die wunderschönen, lieblichen, anmutigen Elfen mit mir trampeligem, häßlichen, komischen Kind abgaben, versetzte mich immer wieder in Staunen, aber es machte mich auch stolz.
Jedes Frühjahr dergleiche Kampf: ich wollte unbedingt die schlecht sitzende, ewig rutschende, kratzige Strumpfhose eintauschen gegen Kniestrümpfe. Das erste Mal Kniestrümpfe an haben nach einem langen kalten Winter und die frisch-milde Frühlingsluft an den Beinen zu spüren, bedeutete mir eine unvergleichliche Sensation, auf die ich mit Vorfreude ungeduldig wartete. „Esis dochers Märchz! Esis eiskalt! Kuckmada, wiech friere!“ schrie meine Mutter wie jedes Jahr. Vor meinem geistigen Auge hatte ich das Bild eines gleichaltrigen, doch recht großen, auffallend blaßhäutigen Mädchens mit beinahe schwarzem Haar, stets zu akkuraten „Affenschaukeln“ frisiert, das an steifen, auffallend unsportlichen, staksigen schneeweißen Beinen bei fast jedem Wetter Kniestrümpfe mit Rautenmuster zu dunkel karierten Faltenröcken anhat. „Aber es ist doch gar nicht kalt, es ist so schön warm! Außerdem darf das Gabi Baum das ganze Jahr über Kniestrümpfe tragen, wie es das will! Dem seine Mutter verbietetem das nich!“ schrie ich zurück, „Das Gabi Baum hat ja auch nur ne Mutter, und keinen Vater! Außerdem denkn de Leute sonz, wer kümmern uns nich richtich um dich, wemwer dir sowas erlaum!“ schrie meine Mutter zurück, als ob das ein passendes Argument sei, und ich wurde fast verrückt, weil dieses Gefühl, wenn mir der knielange Rock um die bis auf die Kniestrümpfe ansonsten nackten Beine schwang und ich jeden Windhauch, auch den ganz zarten, sachten, auf meiner Haut wie ein Streicheln empfand. Es war das Ende des Gefühls des Eingesperrt-seins in unbequeme, kratzige „Wickel“, wollene Fesseln und widerliche Bandagen. Freiheit für meine Beine! Jahrelang waren meine Knie bedeckt von alten und neu hinzugekommenen Abschürfungskrusten, die ich allzu gerne abknibbelte, wenn sie im Endstadium der Heilung juckten. Abgesehen von den geliebten Kniestrümpfen war ich verrückt nach schneeweißen, völlig glatten Strumpfhosen, die ich allerdings nie bekam, weil meiner Mutter die glatten nicht gefielen, sie bevorzugte die mit ausgeprägter Streifenstruktur. Überhaupt hatten weder ich noch meine beiden jüngeren Geschwister ein Wörtchen mitzureden bei der Kleiderwahl. Allein meine Mutter bestimmte, welche Klamotten gekauft wurden. Dabei achtete sie streng auf gewisse Marken bzw. auf die Anziehgewohnheiten der Oberschicht. Ich sehe sie vor mir, wie sie augenverdrehend andächtig-schwärmerisch den Namen „Hummelsheim“ ausspricht und lebhaft mit Händen und Füßen versucht, Interesse bei mir zu wecken: „ Neee – wasn Mäntelchen, ooooh1 hasse sowwas schönes schomma gesehn! Mein Gott! Oooooh!“ Ich hatte einen ganz anderen Geschmack, ich hätte so gerne eine „Blue Jeans“ gehabt, doch meinte meine Mutter mit Verachtung in der Stimme, das seien „Arbeiterhosen“. Ich mußte nicht selten Kleider anziehen, von denen ich manche richtig haßte. Bei weitem das übelste Stück war ein scheußlicher graugrüner Lodenmantel, mit weit geschnittenem, abstehendem Rücken, viel zu kurzen und zu weiten Ärmeln und mir an Hals, Ohrläppchen und Unterkieferknochen schmerzenden, viel zu engen Stehkragen. Den bekam ich, als ich sieben Jahre alt war. Üblich bei dieser mir bis heute verhaßten Trachtenmode war das raue, schwere Material. Mein Hummelsheimprachtstück war so hart und steif, daß ich die Arme nicht richtig bewegen konnte und stets das Gefühl hatte, man habe den Mantel mitsamt des Bügels von der Garderobe genommen und mir angezogen. Mit hochgezogenen Schultern und angehobenen, leicht angewinkelten Armen mußte ich sonntags in dem fürchterlichen Kleidungsstück in die Kirche gehen. „Das ist ein echter Hummelsheim-Mantel!“ schrie ich wütend der spöttisch kichernden Kinder-Meute zu und vermochte meinen Tränenstrom nicht zu kontrollieren, was mich erst recht zur Weißglut trieb. Weil ich wegen seines Gewichts den Mantel nicht hochbekam, um ihn aufzuhängen, stellte ich das harte, steife Ungetüm einfach in einer freien Ecke auf den Fußboden, wo es aufrecht stehen blieb, ohne auch nur ein einziges Zentimeterchen zu verknicken. Wieviele wütende Tränen der Demütigung habe ich wegen dem beschissenen Lodenmantel vergossen, wieviele zornige Kämpfe vergeblich gefochten, wieviele Beleidigungen mit zusammengebissenen Zähnen ertragen müssen. Ich wünschte mir sehnlichst, den Mut aufzubringen, den Mantel einfach nicht mehr an zu ziehen. Doch ich war kein mutiges Mädchen, ich war ein verzweifeltes, unsicheres, verwirrtes Kind, das so gerne stark, tapfer, selbstsicher und, ja, auch ein kleines bißchen frech gewesen wäre. Erst nach vielen Monaten und durchweinten Nächten brachte ich es fertig, mich offen gegen den Mantel zu entscheiden. Wie verzagt, wie ängstlich ich im Herzen war, das wußte niemand. Zitternd sagte ich : „Nein. Ich ziehe den Mantel nicht an.“ Sofort donnerte es über mir, Blitze und heftige Regenschauer peitschten auf mich herab. Wie kann ein Mensch sowas aushalten, fragte ich mich voller Furcht, und war überzeugt, die Liebe und Zuwendung meiner Mutter endgültig verloren zu haben. „Son schönes Mäntelchen, echt Hummelsheim, andere Kinder wärn froh, son schönen Lodenmantel zu ham, nur du bis undankbar, wie immer, du has was in dir, das hätte ich nich gewaacht, mich meinen Eltern gegenüber so zu benehmen,“ kreischte meine Mutter, während sie mich in den Mantel prügelte, „ du bist so ganz anders, als andere Kinder, das Barbara Tierbach, das würde nicht wagen, so frech zu sein, das wäre glücklich, wennes son schönen Hummelsheim-Mantel hätte!“ Mütter haben überhaut keine Ahnung von ihren Kindern, dachte ich mal wieder, denn wieso stand das Barbara Tierbach immer auf der Seite derer, die mich auslachten, wenn ich in dem zeltartigen Ungetüm von Hummelsheim an kam! Was ich daraus lernte: der niedliche, vielversprechende Markenname, der netten, brummelnden Hummeln ein Heim verhieß, war das einzig Verlockende an der Sache. Namen können nicht nur betören, sondern auch schmerzlich enttäuschen. Mit acht, in den Sommerferien, fuhren wir im VW-Käfer, unserem ersten Auto, durch den Odenwald und spazierten durch Michelstadt. Meine Mutter erblickte mit ihren immer wachen Adleraugen und Kennermiene ein Schuhgeschäftschaufenster in der Julisonne blitzen. Hoch erfreut entdeckte ich die schönsten schwarzen Lackschuhe, die ich bisher gesehen hatte. Natürlich bekam ich nicht die, sondern die deutlich herabgesetzten roten daneben. Warum sie beinahe geschenkt waren: ein Exemplar hatten sie wochenlang im Schaufenster gehabt. Ich wurde gezwungen, einen dunkel-Süßkirschroten und einen von der Sonne ausgebleichten fast paprika-orangenen Schuh zu tragen. „Was fürn Schühchen! Stelldich nich so an, den Unterschied sieht doch kein Mensch, so pingelich sind wer nich, kuckmada, nee, was fürn schönes Schühchen! Oooooooh!“
Donnerstag, 13. Mai 2010
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen