Freitag, 14. Mai 2010

Auf der Rückfahrt ins Sauerland durften wir uns alle drei jeder für sage und schreibe fünfzig Pfennig in einem Kiosk südlich von Frankfurt am Main, in Neu-Isenburg, wo meine Tante Inge wohnte, was Süßes aussuchen. Mit Riesenaugen bestaunten wir die süß-klebrige, schaumig-schokoladige, karamellig-zuckrige Riesenauswahl in Riesengläsern. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich etwas Neues entdeckte, wovon ich bisher nur gehört, jedoch noch nie reingebissen hatte. In unserem Heimatstadtchen gab es keinen Kiosk, das gab es nur in großen Städten, aber die Werbung, die gab es auch bei uns. Vor Entzücken ganz still geworden,leckte ich mich andächtig millimeterweise auf dem Rücksitz unseres VW-Käfers durch mein allererstes „Mars“, das bekanntlich bei Arbeit, Sport und Spiel mobil macht, um meine Mutter, die den ihrer Meinung nach unverschämt hohen Preis von vierzig Pfennig nicht gerechtfertigt fand, von der Angemessenheit desselben zu überzeugen, indem ich extra langsam lutschte und ihr nach einer dreiviertel Stunde triumphierend einen kleinen, zusammengeschmolzenen Klumpen aus Schokoladenmasse und Karamell zwischen verklebten Fingern vor die Nase hielt, zum Beweis, das immer noch was da war nach so langer Zeit; und als überzeugendes Argument für das absolut ausgewogene Preis-Leistungsverhältnis dieses uns allen bis dahin unbekannten großartigen Schleck-Erlebnisses. Meine feigen Geschwister waren kein Wagnis eingegangen und hatten sich für ihre fünfzig Pfennig nach langem Hin- und Her dann doch für die altbekannten langweiligen Lakritzschnecken, Kirschlutscher, Ahoi-Brausepulvertütchen, Gummischnuller und Prickel-Pitt-Bonbons entschieden und glaubten, mir mit ihren prall gefüllten weißen Papiertüten imponieren zu können, weil ich ja „nur zwei“ Sachen hatte. Sie lachten mich aus und meinten, sie seien viel schlauer gewesen, als ich, weil sie ihre fünfzig Pfennig in Masse investiert hatten, hingegen ich auf Qualität gesetzt hatte. Ich hatte mir für die restlichen zehn Pfennig einen Mohrenkopf gekauft, den ich als erstes wegschleckte, vor dem neuartigen Marsriegel, als Vorspeise sozusagen. Natürlich hätte ich nicht gewußt, was eine Vorspeise ist. Mohrenköpfe schmeckten mir von jeher furchtbar gut, ich war völlig geck nach Mohrenköpfen. Beim Bäcker Deimel auf der Winterbergstrasse kostete ein Mohrenkopf zehn Pfennig, wie in dem Neu-Isenburger Kiosk. Manche sagten „Negerkuss“ dazu, den Ausdruck konnte ich nicht leiden, das hörte sich so unappetitlich an. Als ich vier Jahre alt war, pflegte ich Groschen, die mir meine Oma schenkte, im Mund zum Bäcker Deimel zu bringen. Groschen schmecken absolut scheußlich, trotzdem verwahrte ich das Geld im Mund. Heute würde ich vom Transport monetärer Objekte in der menschlichen Mundhöhle eher abraten, denn mir passierte, worauf alle, auch der Bäcker Deimel, seit langem wartete. Ich verschluckte versehentlich den Groschen, mit dem ich den soeben entgegengenommenen Mohrenkopf zu bezahlen gedachte. Reflexartig biss ich ein großes Stück aus dem Mohrenkopf raus, um so den penetrant-fiesen Geschmack zu übertönen. Der Bäcker Deimel starrte mich einen Moment lang entgeistert an, dann wurde er ein bißchen rot im Gesicht und rief nach seinem Gehilfen, der mich auf dem schnellsten Weg nach Hause brachte. Ich fing an schrecklich zu weinen, weil ich mich daran erinnerte, daß meine Oma mehrmals nachdrücklich behauptet hatte, Groschen seien giftig, deshalb glaubte ich, ich hätte nur noch wenige Minuten zu leben, außerdem war der angebissene, halb geschmolzene Mohrenkopf in meiner klebrigen Hand nicht bezahlt und ich wollte vom Lieben Gott nicht als Diebin ausgeschimpft werden. Eine Stunde später zeigte uns der Arzt Dr. Diefenbach das Röntgenbild von meinem Magen, wies auf einen Schatten, von dem er behauptete, das es sich hierbei um den verschluckten Groschen handele und instruierte meine aufgeregte Mutter, mich solange mit Haferschleim zu ernähren, aufs Töpfchen zu setzen und mein Stoffwechselendprodukt auf das Zehnpfennigstück zu durch suchen, bis es gefunden werden würde. Es dauerte fast eine ganze Woche, dann hielt meine Mutter triumphierend die beschmierte Wäscheklammer mit den beschmierten Groschen hoch. Fünf Minuten später stand ich beim Bäcker Deimel vor der Theke und hielt voll Vorfreude das sauber abgewaschene Geldstück hoch: „Einen Mohrenkopf, bitte!“ Nachdem mein Onkel Gerd sich die Begebenheit hatte erzählen lassen, meinte er: „Du hast wohl deinen Geldbeutel im Bauch!“ Diese Bemerkung fand ich so lustig, daß ich eine Lachkrampf bekam und noch Jahre später allen, ob sie wollten, oder nicht, davon erzählte und mich immer wieder von Neuem darüber tot lachte. Kinderwitze halten mindestens doppelt, wenn nicht gar dreimal so lange, wie die Witze der Großen. Ein typischer Kinderwitz der Schulanfänger war: Fritzchen (in den frühen Sechzigern gab es Unmengen von Fritzchenwitzen) steht an der Ecke und wirbelt einen Rosenkranz karrussellartig auf dem Zeigefinger, kommt ne alt Omma und sagt, also, Junge, das darf man aber nicht, weißt du denn nicht, daß in dem Rosenkranz der Liebe Gott, der Heilige Geist und der Herr Jesus Christus wohne? Fritzchen steckt den Rosenkranz in die Hosentasche, die Omma geht weiter, als er sie nich mehr sieht, holt er den Rosenkranz wieder raus und sagt, Haltet euch fest, es geht weiter! Ein anderer beliebter Witz: Was ist die Marienzigarrette? Antwort: Ernte 23, denn sie ist von höchster Reinheit. Oder Winnetou-Witze: Uff, sprach Winnetou, nahm sein Messer, schnitzte sich ein Loch in den Bauch und verschwand darin. Solche naiven Geschichtchen waren bei uns Kinden äußerst beliebt, wir lachten wie die Bekloppten immer wieder über dieselben Sachen, als hörten wir sie zum ersten und nicht zum hundertsten Mal.

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