Der Flughafen lag acht Kilometer vor den städtischen Randbezirken im Rotbraun der Wildnis, die unmittelbar ausserhalb der Stadt begann. Später, wenn ich den Unterhaltungen der Erwachsenen auf unserer Terrasse lauschte, fiel immer wieder das Wort „Brust“, wenn es um die Wildnis ging.
„...und sie verirrten sich in der „brousse“ -!“
Die Deutschen hatten das französische Wort „brousse“ für Wildnis in unsere Sprache adaptiert, es war mir aber nicht geläufig, ich hörte immer nur „Brust“ raus, und überlegte mir, daß wir nun für die nächsten zwei Jahre an Afrikas breiter Brust gut aufgehoben wären.
Ein Ziegelsteingebäude auf der rechten Seite erregte meine Aufmerksamkeit; Reiter in bunten Kleidern hielten sich davor auf. Das sei die Pferderennbahn, erfuhr ich, jeden zweiten Sonntagnachmittag finden hier aufregende Rennen statt unter der Schirmherrschaft der einmal im Monat persönlichen anwesenden Präsidentengattin Aissa Diori. Ich lehnte mich zurück, fühlte mich sauwohl, als würde ich endlich nach Hause kommen.
Sonntag, 30. Mai 2010
Dienstag, 25. Mai 2010
Hinter der Putzkolonne standen regungslos zwei große Männer, die bodenlange Gewänder an hatten, ihre Köpfe waren eingewickelt in zu einer Art Turban geschlungene weiße und schwarze Tücher, mit Gesichtsschleier, der nur die Nsae und die verspiegelten Sonnenbrillen freigab. Auf dem Rücken trugen sie altmodische Gewehre mit langem Lauf und verrosteten Metallteilen, am Unterarm hatten sie Dolche in verzierten Lederscheiden, und um den Hals trugen beide lange Lederschnüre zu einer Kette verschlungen, mit kleinen ledernen Päckchen und Silberschmuck. Sofort fühlte ich mich von den ersten leibhaftigen Tuareg angezogen, bewundernd starrte ich die eindrucksvollen Erscheinungen aus einer fremden Welt an, bis mich die Stimme meiner Mutter aus meiner Vaerzauberung riss.
Von den nomadischen Tuareg, einem wilden Volk, dessen verschiedene Stämme über ganz Westafrikas Wüsten über viele Landesgrenzen, die sie nicht anerkennen, hinweg, verteilt leben, wissen die Forscher bis heute nicht genau, woher sie eigentlich stammen. Ihre Sprache ist das „tamaschek“, zusammengesetzt aus Elementen sämtlicher Sprachen von südlichen Atlas bis zum Nil, gewürzt mit einem guten Schuß lateinisch und uralten, längst vergangenen Sprachen des Vorderen Orients. Der Name der Großen Göttin Ischtar bedeutet in mehreren altorientalischen Sprachen „Stern“. In latein wäre das „Astra“, in tamaschek „Atrr“. „Aqua“ ist auf latein Wasser, auf tamaschek sagt man “Ama“. Es gibt viele Beispiele. Meine persönliche Theorie ist: die Tuareg sind ursprünglich Indoarier. Äußerlich gleichen sie in verblüffender Weise manchen nordindischen Völkern, sie sehen vielen Rajasthani zum Verwechseln ähnlich, bevorzugen ähnliche Lebensweisen und Lebensräume. Sie haben dieselben Vorfahren, wie wir, ein Teil der Arier wanderte von Zentralasien in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends, so etwa um 1200 vor Christus, in Richtung Nordindien, der andere Teil wandte sich Europa und dem Vorderen Orient zu, von wo aus es naheliegend ist, über Ägypten in Nord- und Westafrika einzufallen. Unterwegs assimilierten sie Sprachen, Sitten, Glaubensformen, Gebräuche und genetisches Material. Ihre Schrift ist typisch für Völker der Wüste, sie besteht aus herrlich anzusehenden, leicht und schnell in Sand und Fels zu ritzenden Zeichen. Viele schöne Menschen habe ich gesehen auf der Welt, aber die Tuareg sind die schönsten von allen.
Von den nomadischen Tuareg, einem wilden Volk, dessen verschiedene Stämme über ganz Westafrikas Wüsten über viele Landesgrenzen, die sie nicht anerkennen, hinweg, verteilt leben, wissen die Forscher bis heute nicht genau, woher sie eigentlich stammen. Ihre Sprache ist das „tamaschek“, zusammengesetzt aus Elementen sämtlicher Sprachen von südlichen Atlas bis zum Nil, gewürzt mit einem guten Schuß lateinisch und uralten, längst vergangenen Sprachen des Vorderen Orients. Der Name der Großen Göttin Ischtar bedeutet in mehreren altorientalischen Sprachen „Stern“. In latein wäre das „Astra“, in tamaschek „Atrr“. „Aqua“ ist auf latein Wasser, auf tamaschek sagt man “Ama“. Es gibt viele Beispiele. Meine persönliche Theorie ist: die Tuareg sind ursprünglich Indoarier. Äußerlich gleichen sie in verblüffender Weise manchen nordindischen Völkern, sie sehen vielen Rajasthani zum Verwechseln ähnlich, bevorzugen ähnliche Lebensweisen und Lebensräume. Sie haben dieselben Vorfahren, wie wir, ein Teil der Arier wanderte von Zentralasien in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends, so etwa um 1200 vor Christus, in Richtung Nordindien, der andere Teil wandte sich Europa und dem Vorderen Orient zu, von wo aus es naheliegend ist, über Ägypten in Nord- und Westafrika einzufallen. Unterwegs assimilierten sie Sprachen, Sitten, Glaubensformen, Gebräuche und genetisches Material. Ihre Schrift ist typisch für Völker der Wüste, sie besteht aus herrlich anzusehenden, leicht und schnell in Sand und Fels zu ritzenden Zeichen. Viele schöne Menschen habe ich gesehen auf der Welt, aber die Tuareg sind die schönsten von allen.
Montag, 24. Mai 2010
Ich war zwölf, als die Familie nach Niamey, Westafrika, zog für die nächsten zwei Jahre. Es kam mir vor, wie ein Neubeginn, der Start in eine neues Leben in einem unbekannten Land; vielleicht ließ dieses Land nicht zu, dass ich weiterhin so falsch, so gar nicht richtig war, und dass ich fast immer das Gefühl von Fremdheit, von Nicht-dazu-gehören hatte. Eine schlimme Erfahrung war für mich der Streit um das Fahrrad gewesen. Im Sommer, als ich zehn war, bekam ich ein knallrotes Fahrrad, mein liebster Besitz. Am Tag vor der ersten Italienreise mit der ganzen Familie sah ich Sigrid Nebeling, meine ärgste Feindin, demonstrativ langsam, in Spiralen fahrend, auf meinem neuen Fahrad, immer hin und her vor unserem Haus. Laut aufschreiend stürzte ich mich auf sie, haute sie von meinem Besitz runter und verpaßte der am Boden liegenden einen wütenden Tritt vors Schienbein. Sie mußte ins Krankenhaus gefahren werde. Dort zogen sie mit speziellen Instrumenten bei örtlicher Betäubung den fingerdicken Splitter meiner Holzschlappen heraus. Zur Sicherheit verpaßten sie ihr noch eine Tetanusspritze. Meine beschämten und erbosten Eltern gaben dem kreischenden Sigrid den Beutel mit meinen Lieblingsbonbons, den die Mutter meiner Freundin Anita mir als Reiseproviant geschenkt hatte. Erdbeer-Sahne. Ich mußte zur Strafe wieder mal sofort ins Bett, obwohl es ein schöner Sommertag war und alle Kinder draußen spielten. Die Rolladen wurden dicht heruntergezogen. Nach drei gräßlichen Stunden Grübeln, Wut und dem Gefühl des Alleingelassen-Seins eröffnete mir meine Mutter, dass nun alles aus sei. Sie würden morgen die Reise nach Italien ohne mich antreten. Ich würde ins Heim für schwer Erziehbare gesteckt, das hatte ich nun davon. Ich glaube, das war das erste mal, dass ich ernsthaft, nicht zum Spaß, daran dachte, mich allem zu entziehen. Ich kann sowas nicht. Ich bin nicht geschaffen, zu leben, wie ihr es tut, ging mir durch den Kopf, ich kann nicht bringen, was von mir erwartet wird. Ich will nicht die Pilze auf latein können, ich will nur so, zum Spaß klettern, ich will auch keine Eislaufprinzessin sein, ich will einfach nur so Schlittschuhlaufen, wie ich gerade will, und ich muß auch keine Medaille in 100-Meter-Lauf gewinnen, ich will nur so zum Spaß rennen. Im Kopf schrie ich laut. Über die Lippen brachte ich keinen Ton. Vor meinem geistigen Auge lief ein quälender Film. Ich fühlte mich elend. Und Sigrid Nebeling nehme ich mich mal richtig vor, bei der nächsten Gelegenheit. Die ergab sich erst fast vierzig Jahre später, ich sah sie in der U-Bahn, sie saß mir gegenüber. Sie machte einen altgewordenen, müden Eindruck, hatte aber noch das selbe Gesicht. „Das ist Sigrid Nebeling.“ sagte ich meiner Freundin ins Ohr.
„Woher kennst du die Frau?“ wollte sie wissen.
„ Sie hat mal mein Fahrrad genommen ohne mich zu fragen…“
„Wann hattest du ein Fahrrad?“
„Als ich zehn war.“
Nach den Aufregungen der vergangenen Monate ist es endlich soweit. Die beiden Lehrgänge waren absolviert, ein Stapel Sommerkleider für jeden war angeschafft worden von dem Geld, was sie uns zum Ausrüsten der Familie ausgezahlt hatten, das Auto wurde verkauft, passende Mieter für das Haus gesucht, Telefonnummer für zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen, wir von unseren Schulen abgemeldet, Adressen von Mitschülern und manchen Lehrkräften notiert, von Freunden verabschiedet. Seit einem Monat war meine Mutter mit uns allein, mein Vater war bereits in Niamey, um ein Haus für uns zu suchen und unsere Ankunft vorzubereiten. Mit drei Kindern, schwerem Gepäck und leichten Beklemmungen bestiegen wir in Köln ein Propellerflugzeug nach Brüssel. Vor Aufregung kotzten meine Geschwister in der wackeligen Maschine. Ich besah mir in seliger Ruhe die Welt von oben. Unser erster Flug! Das Starten und Landen fand ich am tollsten, und selten sah mich meine Mutter so ruhig und vernünftig, wie sie mir sagte, mit einem misstrauischen Seitenblick zwischen zwei Brechanfällen. Abgehoben lächelnd überstand ich jedes noch so holperige „Luftloch“ ohne Übelkeit, im Gegenteil, ich genoß das Gefühl, zu fliegen, - keinen Bodenkontakt, nur Wolken und Himmel. Von Brüssel kommend, wechselten wir in Paris den Flughafen und stiegen um in eine große Verkehrsmaschine. Das Mittelmeer und die nordafrikanische Küstenlinie ließ sich gut erkennen. Hoch über Algerien bekam ich eine Ahnung davon, was Wüste ist. Die Sahara sah von oben schon so wunderbar aus, wie mochte es sein, sie unter den Fußsohlen zu spüren… Spuren ließen sich ausmachen, als würden die Wüstenwesen stets die gleichen Wege bevorzugen, als seien die Trampelpfade von Anbeginn der Zeit dagewesen, eingraviert in den harten, heißen Boden aus Steinen, Sand, Geröll und Staub: verirren unmöglich mit diesen untrüglichen Wegzeichen. Ich überflog die jahrtausendealten Felszeichnungen von Elefanten, Giraffen, Antilopen. Sie lebten einst genau dort, wo sich jetzt der Mittelpunkt der Sahara befindet.
Brütendheiße Luft schlug uns schwer entgegen. Wir waren gelandet im Nichts, in wuchtigem, tiefen, Rotbraun, unterbrochen nur von hellgrauem Gestein und dornigem Gebüsch inmitten kleiner Inselchen verdorrten Grases. Beim Verlassen des Sabena-Jets hatte ich den Eindruck, durch eine Mauer zu gehen. Ungewohnt dick stand die Luft vor mir. Das Atmen fiel schwer, Hitze erfüllte augenblicklich die aufgeblähten Lungen, erfaßte mit einem Schlag den gesamten Organismus. Dann dieser… Geruch! Das Land schien überzogen mit einer undurchdringlichen Geruchsschicht. Deutschland riecht nicht: Kontinentalklima, Zone gemäßigt; Gerüche entfalten sich nicht so, wie in heißen, tropischen Gegenden. Hitze verstärkt um ein Vielfaches alles, was uns in die Nase steigt. Eingepackt in mehrere Lagen glühender Stoffe aus flimmernder Luft liegt vor mir - Niger. Das Schwarze Land am Südrand der großen Sahara. Steiniges, sandiges Land zwischen ausgedehnten Wüsten, sonnenverbrannten Gras-Savannen, urtümlichen Dornbuschsteppen, merkwürdigen Felsentürmen, und ganz im äußersten Süden, wo die Landesgrenzen bei Dahomey und Obervolta in einer grandiosen, menschenleeren Landschaft bereit sind, in seltenen Jahren hinreichender Regengüsse, dir eine vage Ahnung von Urwald zu schenken, mit raren Ansammlungen sämtlicher Grüntöne dieses Planeten. Interessante, fremd anmutende Organismen bewohnen diese ausgedörrte Feuerwelt, verschmolzen mit ihrem Lebensraum zu einem einzigen Intensivum.
Die Menschen im Flughafengebäude, davor und darauf, waren die ersten Einheimischen, die ich zu Gesicht bekam. Während wir die an die geöffnete Fluzeugtür angeschobene Treppe hinunterstapften, ich mit meinem kleinen Köfferchen, meine Schwester mit Armen voll Puppen, mein kleiner Bruder mit einem Rucksack voll Lego, entdeckte ich in der neugierigen Menge hinter dem Zaun meinen Vater. Er hatte einen Astronautenhaarschnitt und winkte und schrie voll Freude unsere Namen. Meine Mutter verließ als letzte das Flugzeug, sie achtete darauf, daß nichts liegenblieb und schleppte das gesamte restliche Handgepäck. Wir Kinder rannten auf unseren Vater zu, der überglücklich seine Arme weit geöffnet hatte und strahlte. Nach der Paß- und Zollprozedur waren wir nicht mehr durch Sperren getrennt. Das Gepäck wurde getragen von zwei braunhäutigen jungen Männern in europäischer Kleidung und einem rabenschwarzen Mann in einem hellblauen, bodenlangen, ärmellosen Gewand mit Stickereien am Saum. Er lachte mich blendendweiß an, ein kehliges Gurren aus seinem breiten, freundlichen Mund. An der Decke des kleinen Gebäudes rotierten gemächlich riesige Ventilatoren, wie Windmühlen, um die Luft erträglicher zu machen. Irgendwie waren sie, wie Heuwender, sie erfrischten nicht, sie wendeten die schwere, glutheißer Luft nur um.
„Woher kennst du die Frau?“ wollte sie wissen.
„ Sie hat mal mein Fahrrad genommen ohne mich zu fragen…“
„Wann hattest du ein Fahrrad?“
„Als ich zehn war.“
Nach den Aufregungen der vergangenen Monate ist es endlich soweit. Die beiden Lehrgänge waren absolviert, ein Stapel Sommerkleider für jeden war angeschafft worden von dem Geld, was sie uns zum Ausrüsten der Familie ausgezahlt hatten, das Auto wurde verkauft, passende Mieter für das Haus gesucht, Telefonnummer für zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen, wir von unseren Schulen abgemeldet, Adressen von Mitschülern und manchen Lehrkräften notiert, von Freunden verabschiedet. Seit einem Monat war meine Mutter mit uns allein, mein Vater war bereits in Niamey, um ein Haus für uns zu suchen und unsere Ankunft vorzubereiten. Mit drei Kindern, schwerem Gepäck und leichten Beklemmungen bestiegen wir in Köln ein Propellerflugzeug nach Brüssel. Vor Aufregung kotzten meine Geschwister in der wackeligen Maschine. Ich besah mir in seliger Ruhe die Welt von oben. Unser erster Flug! Das Starten und Landen fand ich am tollsten, und selten sah mich meine Mutter so ruhig und vernünftig, wie sie mir sagte, mit einem misstrauischen Seitenblick zwischen zwei Brechanfällen. Abgehoben lächelnd überstand ich jedes noch so holperige „Luftloch“ ohne Übelkeit, im Gegenteil, ich genoß das Gefühl, zu fliegen, - keinen Bodenkontakt, nur Wolken und Himmel. Von Brüssel kommend, wechselten wir in Paris den Flughafen und stiegen um in eine große Verkehrsmaschine. Das Mittelmeer und die nordafrikanische Küstenlinie ließ sich gut erkennen. Hoch über Algerien bekam ich eine Ahnung davon, was Wüste ist. Die Sahara sah von oben schon so wunderbar aus, wie mochte es sein, sie unter den Fußsohlen zu spüren… Spuren ließen sich ausmachen, als würden die Wüstenwesen stets die gleichen Wege bevorzugen, als seien die Trampelpfade von Anbeginn der Zeit dagewesen, eingraviert in den harten, heißen Boden aus Steinen, Sand, Geröll und Staub: verirren unmöglich mit diesen untrüglichen Wegzeichen. Ich überflog die jahrtausendealten Felszeichnungen von Elefanten, Giraffen, Antilopen. Sie lebten einst genau dort, wo sich jetzt der Mittelpunkt der Sahara befindet.
Brütendheiße Luft schlug uns schwer entgegen. Wir waren gelandet im Nichts, in wuchtigem, tiefen, Rotbraun, unterbrochen nur von hellgrauem Gestein und dornigem Gebüsch inmitten kleiner Inselchen verdorrten Grases. Beim Verlassen des Sabena-Jets hatte ich den Eindruck, durch eine Mauer zu gehen. Ungewohnt dick stand die Luft vor mir. Das Atmen fiel schwer, Hitze erfüllte augenblicklich die aufgeblähten Lungen, erfaßte mit einem Schlag den gesamten Organismus. Dann dieser… Geruch! Das Land schien überzogen mit einer undurchdringlichen Geruchsschicht. Deutschland riecht nicht: Kontinentalklima, Zone gemäßigt; Gerüche entfalten sich nicht so, wie in heißen, tropischen Gegenden. Hitze verstärkt um ein Vielfaches alles, was uns in die Nase steigt. Eingepackt in mehrere Lagen glühender Stoffe aus flimmernder Luft liegt vor mir - Niger. Das Schwarze Land am Südrand der großen Sahara. Steiniges, sandiges Land zwischen ausgedehnten Wüsten, sonnenverbrannten Gras-Savannen, urtümlichen Dornbuschsteppen, merkwürdigen Felsentürmen, und ganz im äußersten Süden, wo die Landesgrenzen bei Dahomey und Obervolta in einer grandiosen, menschenleeren Landschaft bereit sind, in seltenen Jahren hinreichender Regengüsse, dir eine vage Ahnung von Urwald zu schenken, mit raren Ansammlungen sämtlicher Grüntöne dieses Planeten. Interessante, fremd anmutende Organismen bewohnen diese ausgedörrte Feuerwelt, verschmolzen mit ihrem Lebensraum zu einem einzigen Intensivum.
Die Menschen im Flughafengebäude, davor und darauf, waren die ersten Einheimischen, die ich zu Gesicht bekam. Während wir die an die geöffnete Fluzeugtür angeschobene Treppe hinunterstapften, ich mit meinem kleinen Köfferchen, meine Schwester mit Armen voll Puppen, mein kleiner Bruder mit einem Rucksack voll Lego, entdeckte ich in der neugierigen Menge hinter dem Zaun meinen Vater. Er hatte einen Astronautenhaarschnitt und winkte und schrie voll Freude unsere Namen. Meine Mutter verließ als letzte das Flugzeug, sie achtete darauf, daß nichts liegenblieb und schleppte das gesamte restliche Handgepäck. Wir Kinder rannten auf unseren Vater zu, der überglücklich seine Arme weit geöffnet hatte und strahlte. Nach der Paß- und Zollprozedur waren wir nicht mehr durch Sperren getrennt. Das Gepäck wurde getragen von zwei braunhäutigen jungen Männern in europäischer Kleidung und einem rabenschwarzen Mann in einem hellblauen, bodenlangen, ärmellosen Gewand mit Stickereien am Saum. Er lachte mich blendendweiß an, ein kehliges Gurren aus seinem breiten, freundlichen Mund. An der Decke des kleinen Gebäudes rotierten gemächlich riesige Ventilatoren, wie Windmühlen, um die Luft erträglicher zu machen. Irgendwie waren sie, wie Heuwender, sie erfrischten nicht, sie wendeten die schwere, glutheißer Luft nur um.
Dienstag, 18. Mai 2010
Gegenüber dem Neusprachlichen Mädchenlyzeum, einer Nonnenschule, die ich nun besuchte, getrennt durch den Stadtkern im Tal, befand sich, ebenfalls auf halber Höhe, das ebenfalls neusprachliche Gymnasium für Jungen, an dem mein Vater unterrichtete. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Gymnasium und Lyzeum? Ich hatte zum erstenmal englisch und merkte, dass mir Sprachen Spaß machen. In Mathematik und dem Rest der naturwissenschaftlichen Fächer tat ich mich immer schwerer. Auch den Umgang mit den Nonnen fand ich schwierig. Zur Freundin erwählte ich mir, wie immer, das hübscheste Mädchen unserer Klasse, sie kam zum Entsetzen der frommen Schwestern am ersten Schultag als einzige nicht im Rock. Ihr Name war Ute Dunkel. Sie trug eine hellblaue Hose, hatte ein hellblaues Haarband um ihr blondes, schulterlanges Haare mit einer feinen Aussenrolle geschlungen.Obwohl sie äußerlich wirkte, als käme sie aus der Großstadt, wohnte sie mit ihren Eltern in Ottfingen, einem kleinen Dorf ungefähr zwanzig Kilometer von meinem Städtchen entfernt. Ute war ein Einzelkind. Ihre kleine, zierliche Mutter galt in ihrem Nest als die „Dorfschöne“, wie Ute mir mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme berichtete. Sie trug die höchsten Stöckelschuhe, die ich bis dahin je gesehen hatte, die dazu passende Frisur und das passende Make-up: auf dem Oberkopf bestimmt fünfzehn Zentimeter hoch toupiert, mahagonifarben, hellrosa Lippenstift, grünen Lidschatten und perfekt nach außen geschwungenen, schmaler aufgetragenem Lidstrich, in einer gewagten Spitze endend. Ganz Ottfingen drehte sich nach ihr um, wenn sie graziös zwischen den Kuhfladen her stolzierte. Mir imponierte an Ute, dass sie nicht, wie alle anderen, in Rock oder Kleid kam zum ersten Schultag kam. Sie wurde von Schülerinnen wie Lehrerinnen gleichermaßen befremdet angestarrt. Die Art, wie sie es, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, völlig gleichgültig, mit erhobenem Kopf, hinnahm, fand ich umwerfend. Das hätte ich nicht so stolz ertragen, dachte ich bewundernd, und beschloss, solch eine Haltung zu lernen. Ich befreundete mich mit ihr und durfte sogar ab und zu nach der Schule mit dem Bus zu ihr nach Hause mitkommen und bei ihr übernachten. Zusammen machten wir die Hausaufgaben und lernten ein bißchen, etwa im neuen Fach Biologie alles über „Das Haushuhn“, über welches wir am nächsten Tag einen kleinen Vortrag halten mußten.
Montag, 17. Mai 2010
Im dritten Schuljahr hatte ich zum ersten Mal ein „Befriedigend“, in Rechnen, das hatte es bis dahin nicht gegeben. Daß ich in dem neuen Fach „Schön schreiben“ mit einem richtigen, blau-silbernen Patronenfüller (Marke „Pelikan“, die grundsätzlich mehr Anhänger hatte, als die türkisgrüne Konkurrenz „Geha“), mit blauer Tinte in ein liniertes Schönschreibheft bei Herrn Padberg eine glatte Eins (hier fiel die rote Tinte angenehm auf) erzielt hatte, blieb unbeachtet. Frau Schulte wollte die Unterschrift beider Eltern unter all dem Rot sehen. Mein Vater war mit Zähneputzen beschäftigt nach dem Mittagessen. Kleinlaut hielt ich ihm das aufgeschlagene Heft zum Unterschreiben vor, auf den Klodeckel. Er nahm das Heft in die Hand, starrte mit demonstrativem Ärger und jeder Menge Unverständnis auf die vier bedrohlichen Worte unter der schlechten Note und sah mich enttäuscht an. „Was ist das denn?!“ hub er an. Die Enttäuschung in seinem Gesicht zusammen mit seinem fremden Tonfall bewirkte in mir sofort ein Gefühl der Kleinheit. Ich fühlte mich furchtbar. Ich hatte versagt. Richtig versagt. “Muriel arbeitet sehr flüchtig“ las mein Vater mit akzentuiert gesetzter Betonung theatralisch vor. Was war das eigentlich, „Flüchtig“? Zu fragen wagte ich nicht, aber ich glaubte, zu verstehen, daß man in so einer Situation gerne flüchten würde, - oder? Offensichtlich bedeutete dieses Wort etwas ganz furchtbar Grauenhaftes. Ich ließ den Kopf hängen. Mit strengen Blicken setzte mein Vater seinen Namen unter diesen Beweis des Versagens. „Niemals wieder will ich so was sehen!“ er gab mir das Heft und schickte mich zu meiner Mutter, die sehen sollte, was ich da Übles fabriziert hatte, und dies durch ihre eigenhändige Unterschrift bezeugen sollte. „Nie, nie, nie wieder, hastedas auch gehört!?“.
Barbie-Puppen haben ihren Preis, und da ich nie Geld hatte, überredete ich den gutmütigen Onkel Gerd, der inzwischen massive Zweifel am Sinn des Klosterlebens entwickelte, mit mir ins Spielzeuggeschäft zu gehen. Sein kleiner Geldbeutel erlaubte immerhin die Anschaffung einer „Petra“-Puppe, und da „Petra“ ebenfalls diese dürren Beine, die Wespentaille, vor allem aber die Brüste besaß, auf die ich so scharf war, trug ich das Päckchen erwartungsvoll nach Haus, wo ich sofort im Keller verschwand. Nach und nach besaß ich einen Harem von fast einem halben Dutzend nackter, gewagt geschminkter Tempeltänzerinnen, mit interessantem Schmuck an interessanten Körperstellen. Die sechs Time-Life-Bände über Kunst und Kultur, von Ägypten bis in die Gegenwart, fesselten meine Aufmerksamkeit. Die Abbildung der Mumie von Pharao Ramses dem Zweiten hatte es mir besonders angetan, so lag es nahe, mich für die Kunst des Mumifizierens toter Körper zu begeistern. („…mit Haken das Gehirn durch die nächste, natürliche Öffnung entfernen: durch die Nase; anschließend die Innereien aus der Bauchhöhle…“) .
Barbie-Puppen haben ihren Preis, und da ich nie Geld hatte, überredete ich den gutmütigen Onkel Gerd, der inzwischen massive Zweifel am Sinn des Klosterlebens entwickelte, mit mir ins Spielzeuggeschäft zu gehen. Sein kleiner Geldbeutel erlaubte immerhin die Anschaffung einer „Petra“-Puppe, und da „Petra“ ebenfalls diese dürren Beine, die Wespentaille, vor allem aber die Brüste besaß, auf die ich so scharf war, trug ich das Päckchen erwartungsvoll nach Haus, wo ich sofort im Keller verschwand. Nach und nach besaß ich einen Harem von fast einem halben Dutzend nackter, gewagt geschminkter Tempeltänzerinnen, mit interessantem Schmuck an interessanten Körperstellen. Die sechs Time-Life-Bände über Kunst und Kultur, von Ägypten bis in die Gegenwart, fesselten meine Aufmerksamkeit. Die Abbildung der Mumie von Pharao Ramses dem Zweiten hatte es mir besonders angetan, so lag es nahe, mich für die Kunst des Mumifizierens toter Körper zu begeistern. („…mit Haken das Gehirn durch die nächste, natürliche Öffnung entfernen: durch die Nase; anschließend die Innereien aus der Bauchhöhle…“) .
Freitag, 14. Mai 2010
Auf der Rückfahrt ins Sauerland durften wir uns alle drei jeder für sage und schreibe fünfzig Pfennig in einem Kiosk südlich von Frankfurt am Main, in Neu-Isenburg, wo meine Tante Inge wohnte, was Süßes aussuchen. Mit Riesenaugen bestaunten wir die süß-klebrige, schaumig-schokoladige, karamellig-zuckrige Riesenauswahl in Riesengläsern. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich etwas Neues entdeckte, wovon ich bisher nur gehört, jedoch noch nie reingebissen hatte. In unserem Heimatstadtchen gab es keinen Kiosk, das gab es nur in großen Städten, aber die Werbung, die gab es auch bei uns. Vor Entzücken ganz still geworden,leckte ich mich andächtig millimeterweise auf dem Rücksitz unseres VW-Käfers durch mein allererstes „Mars“, das bekanntlich bei Arbeit, Sport und Spiel mobil macht, um meine Mutter, die den ihrer Meinung nach unverschämt hohen Preis von vierzig Pfennig nicht gerechtfertigt fand, von der Angemessenheit desselben zu überzeugen, indem ich extra langsam lutschte und ihr nach einer dreiviertel Stunde triumphierend einen kleinen, zusammengeschmolzenen Klumpen aus Schokoladenmasse und Karamell zwischen verklebten Fingern vor die Nase hielt, zum Beweis, das immer noch was da war nach so langer Zeit; und als überzeugendes Argument für das absolut ausgewogene Preis-Leistungsverhältnis dieses uns allen bis dahin unbekannten großartigen Schleck-Erlebnisses. Meine feigen Geschwister waren kein Wagnis eingegangen und hatten sich für ihre fünfzig Pfennig nach langem Hin- und Her dann doch für die altbekannten langweiligen Lakritzschnecken, Kirschlutscher, Ahoi-Brausepulvertütchen, Gummischnuller und Prickel-Pitt-Bonbons entschieden und glaubten, mir mit ihren prall gefüllten weißen Papiertüten imponieren zu können, weil ich ja „nur zwei“ Sachen hatte. Sie lachten mich aus und meinten, sie seien viel schlauer gewesen, als ich, weil sie ihre fünfzig Pfennig in Masse investiert hatten, hingegen ich auf Qualität gesetzt hatte. Ich hatte mir für die restlichen zehn Pfennig einen Mohrenkopf gekauft, den ich als erstes wegschleckte, vor dem neuartigen Marsriegel, als Vorspeise sozusagen. Natürlich hätte ich nicht gewußt, was eine Vorspeise ist. Mohrenköpfe schmeckten mir von jeher furchtbar gut, ich war völlig geck nach Mohrenköpfen. Beim Bäcker Deimel auf der Winterbergstrasse kostete ein Mohrenkopf zehn Pfennig, wie in dem Neu-Isenburger Kiosk. Manche sagten „Negerkuss“ dazu, den Ausdruck konnte ich nicht leiden, das hörte sich so unappetitlich an. Als ich vier Jahre alt war, pflegte ich Groschen, die mir meine Oma schenkte, im Mund zum Bäcker Deimel zu bringen. Groschen schmecken absolut scheußlich, trotzdem verwahrte ich das Geld im Mund. Heute würde ich vom Transport monetärer Objekte in der menschlichen Mundhöhle eher abraten, denn mir passierte, worauf alle, auch der Bäcker Deimel, seit langem wartete. Ich verschluckte versehentlich den Groschen, mit dem ich den soeben entgegengenommenen Mohrenkopf zu bezahlen gedachte. Reflexartig biss ich ein großes Stück aus dem Mohrenkopf raus, um so den penetrant-fiesen Geschmack zu übertönen. Der Bäcker Deimel starrte mich einen Moment lang entgeistert an, dann wurde er ein bißchen rot im Gesicht und rief nach seinem Gehilfen, der mich auf dem schnellsten Weg nach Hause brachte. Ich fing an schrecklich zu weinen, weil ich mich daran erinnerte, daß meine Oma mehrmals nachdrücklich behauptet hatte, Groschen seien giftig, deshalb glaubte ich, ich hätte nur noch wenige Minuten zu leben, außerdem war der angebissene, halb geschmolzene Mohrenkopf in meiner klebrigen Hand nicht bezahlt und ich wollte vom Lieben Gott nicht als Diebin ausgeschimpft werden. Eine Stunde später zeigte uns der Arzt Dr. Diefenbach das Röntgenbild von meinem Magen, wies auf einen Schatten, von dem er behauptete, das es sich hierbei um den verschluckten Groschen handele und instruierte meine aufgeregte Mutter, mich solange mit Haferschleim zu ernähren, aufs Töpfchen zu setzen und mein Stoffwechselendprodukt auf das Zehnpfennigstück zu durch suchen, bis es gefunden werden würde. Es dauerte fast eine ganze Woche, dann hielt meine Mutter triumphierend die beschmierte Wäscheklammer mit den beschmierten Groschen hoch. Fünf Minuten später stand ich beim Bäcker Deimel vor der Theke und hielt voll Vorfreude das sauber abgewaschene Geldstück hoch: „Einen Mohrenkopf, bitte!“ Nachdem mein Onkel Gerd sich die Begebenheit hatte erzählen lassen, meinte er: „Du hast wohl deinen Geldbeutel im Bauch!“ Diese Bemerkung fand ich so lustig, daß ich eine Lachkrampf bekam und noch Jahre später allen, ob sie wollten, oder nicht, davon erzählte und mich immer wieder von Neuem darüber tot lachte. Kinderwitze halten mindestens doppelt, wenn nicht gar dreimal so lange, wie die Witze der Großen. Ein typischer Kinderwitz der Schulanfänger war: Fritzchen (in den frühen Sechzigern gab es Unmengen von Fritzchenwitzen) steht an der Ecke und wirbelt einen Rosenkranz karrussellartig auf dem Zeigefinger, kommt ne alt Omma und sagt, also, Junge, das darf man aber nicht, weißt du denn nicht, daß in dem Rosenkranz der Liebe Gott, der Heilige Geist und der Herr Jesus Christus wohne? Fritzchen steckt den Rosenkranz in die Hosentasche, die Omma geht weiter, als er sie nich mehr sieht, holt er den Rosenkranz wieder raus und sagt, Haltet euch fest, es geht weiter! Ein anderer beliebter Witz: Was ist die Marienzigarrette? Antwort: Ernte 23, denn sie ist von höchster Reinheit. Oder Winnetou-Witze: Uff, sprach Winnetou, nahm sein Messer, schnitzte sich ein Loch in den Bauch und verschwand darin. Solche naiven Geschichtchen waren bei uns Kinden äußerst beliebt, wir lachten wie die Bekloppten immer wieder über dieselben Sachen, als hörten wir sie zum ersten und nicht zum hundertsten Mal.
Donnerstag, 13. Mai 2010
Das kratzte zwar scheußlich und stach und irrsinnig heiß war es in der prallen Sommersonne, aber ohne die Mütze hielten meine prächtigen goldenen Zöpfe ja nicht. Dann und wann kamen Spasziergänger vorbei, die kicherten belustigt (manche wiesen gar mit ausgestrecktem Arm auf mich und tippten sich mit dem Zeigefinger an den Kopf) über ein schwitzendes kleines Mädchen mit verträumtem Gesichtsausdruck und einer wollenen Kopfbedeckung, unter welcher trockene Grasbüschel hevorstachen. Dabei thronte hier im Zentrum ihres Reiches die auf der ganzen Welt für ihre Zartheit, Anmut und Schönheit berühmte Prinzessin – ich staunte oft über die Dummheit der Leute. Das war die Sorte Menschen, die auch nicht in der Lage war, die kleinen Welten zwischen Steinen, im Sand, in Blumenwiesen und vor allem im Moos wahrzunehmen. Moos übte einen besonderen Reiz auf mich aus. Ich legte mich lang auf den Waldboden, auch auf matschigen, um auf den weichen Polstern das Treiben der Elfen, Kobolde, Zwerge und Wichtel zu beobachten, wie sie mit leuchtenden Käferchen bespannte Wagen durch ihre filigrane grüne Welt steuerten, niedliche Zwerge, die mit ihrem winzigen Handwerkszeug kleine Tische und Stühle schreinerten und schelmische Kobolde, wie sie kichernd neue Streiche ausheckten. Am faszinierendsten jedoch fand ich die Elfen, winzigkkleine wunderschöne Jungen und Mädchen mit übergroßen, steingrauen, amethystvioletten oder grasgrünen, lang bewimperten Augen, gekleidet in Hosen, Röcke und Blusen aus Blättern und mit phantastischen Mützen aus Blüten auf wehendem, kniekehlenlangem, schimmerndem Haar. Leise lächelten sie mich an mit ihren Zauberaugen, stille Melodien direkt in mein Herz summend, rätselhafte Symbole ihrer heimlichen Existenz in meine Seele einstreichend und Schmetterlinge waren die Boten, die mir märchenhafte Nachrichten sandten aus dem Reich der Moose und Steine. Daß sich die wunderschönen, lieblichen, anmutigen Elfen mit mir trampeligem, häßlichen, komischen Kind abgaben, versetzte mich immer wieder in Staunen, aber es machte mich auch stolz.
Jedes Frühjahr dergleiche Kampf: ich wollte unbedingt die schlecht sitzende, ewig rutschende, kratzige Strumpfhose eintauschen gegen Kniestrümpfe. Das erste Mal Kniestrümpfe an haben nach einem langen kalten Winter und die frisch-milde Frühlingsluft an den Beinen zu spüren, bedeutete mir eine unvergleichliche Sensation, auf die ich mit Vorfreude ungeduldig wartete. „Esis dochers Märchz! Esis eiskalt! Kuckmada, wiech friere!“ schrie meine Mutter wie jedes Jahr. Vor meinem geistigen Auge hatte ich das Bild eines gleichaltrigen, doch recht großen, auffallend blaßhäutigen Mädchens mit beinahe schwarzem Haar, stets zu akkuraten „Affenschaukeln“ frisiert, das an steifen, auffallend unsportlichen, staksigen schneeweißen Beinen bei fast jedem Wetter Kniestrümpfe mit Rautenmuster zu dunkel karierten Faltenröcken anhat. „Aber es ist doch gar nicht kalt, es ist so schön warm! Außerdem darf das Gabi Baum das ganze Jahr über Kniestrümpfe tragen, wie es das will! Dem seine Mutter verbietetem das nich!“ schrie ich zurück, „Das Gabi Baum hat ja auch nur ne Mutter, und keinen Vater! Außerdem denkn de Leute sonz, wer kümmern uns nich richtich um dich, wemwer dir sowas erlaum!“ schrie meine Mutter zurück, als ob das ein passendes Argument sei, und ich wurde fast verrückt, weil dieses Gefühl, wenn mir der knielange Rock um die bis auf die Kniestrümpfe ansonsten nackten Beine schwang und ich jeden Windhauch, auch den ganz zarten, sachten, auf meiner Haut wie ein Streicheln empfand. Es war das Ende des Gefühls des Eingesperrt-seins in unbequeme, kratzige „Wickel“, wollene Fesseln und widerliche Bandagen. Freiheit für meine Beine! Jahrelang waren meine Knie bedeckt von alten und neu hinzugekommenen Abschürfungskrusten, die ich allzu gerne abknibbelte, wenn sie im Endstadium der Heilung juckten. Abgesehen von den geliebten Kniestrümpfen war ich verrückt nach schneeweißen, völlig glatten Strumpfhosen, die ich allerdings nie bekam, weil meiner Mutter die glatten nicht gefielen, sie bevorzugte die mit ausgeprägter Streifenstruktur. Überhaupt hatten weder ich noch meine beiden jüngeren Geschwister ein Wörtchen mitzureden bei der Kleiderwahl. Allein meine Mutter bestimmte, welche Klamotten gekauft wurden. Dabei achtete sie streng auf gewisse Marken bzw. auf die Anziehgewohnheiten der Oberschicht. Ich sehe sie vor mir, wie sie augenverdrehend andächtig-schwärmerisch den Namen „Hummelsheim“ ausspricht und lebhaft mit Händen und Füßen versucht, Interesse bei mir zu wecken: „ Neee – wasn Mäntelchen, ooooh1 hasse sowwas schönes schomma gesehn! Mein Gott! Oooooh!“ Ich hatte einen ganz anderen Geschmack, ich hätte so gerne eine „Blue Jeans“ gehabt, doch meinte meine Mutter mit Verachtung in der Stimme, das seien „Arbeiterhosen“. Ich mußte nicht selten Kleider anziehen, von denen ich manche richtig haßte. Bei weitem das übelste Stück war ein scheußlicher graugrüner Lodenmantel, mit weit geschnittenem, abstehendem Rücken, viel zu kurzen und zu weiten Ärmeln und mir an Hals, Ohrläppchen und Unterkieferknochen schmerzenden, viel zu engen Stehkragen. Den bekam ich, als ich sieben Jahre alt war. Üblich bei dieser mir bis heute verhaßten Trachtenmode war das raue, schwere Material. Mein Hummelsheimprachtstück war so hart und steif, daß ich die Arme nicht richtig bewegen konnte und stets das Gefühl hatte, man habe den Mantel mitsamt des Bügels von der Garderobe genommen und mir angezogen. Mit hochgezogenen Schultern und angehobenen, leicht angewinkelten Armen mußte ich sonntags in dem fürchterlichen Kleidungsstück in die Kirche gehen. „Das ist ein echter Hummelsheim-Mantel!“ schrie ich wütend der spöttisch kichernden Kinder-Meute zu und vermochte meinen Tränenstrom nicht zu kontrollieren, was mich erst recht zur Weißglut trieb. Weil ich wegen seines Gewichts den Mantel nicht hochbekam, um ihn aufzuhängen, stellte ich das harte, steife Ungetüm einfach in einer freien Ecke auf den Fußboden, wo es aufrecht stehen blieb, ohne auch nur ein einziges Zentimeterchen zu verknicken. Wieviele wütende Tränen der Demütigung habe ich wegen dem beschissenen Lodenmantel vergossen, wieviele zornige Kämpfe vergeblich gefochten, wieviele Beleidigungen mit zusammengebissenen Zähnen ertragen müssen. Ich wünschte mir sehnlichst, den Mut aufzubringen, den Mantel einfach nicht mehr an zu ziehen. Doch ich war kein mutiges Mädchen, ich war ein verzweifeltes, unsicheres, verwirrtes Kind, das so gerne stark, tapfer, selbstsicher und, ja, auch ein kleines bißchen frech gewesen wäre. Erst nach vielen Monaten und durchweinten Nächten brachte ich es fertig, mich offen gegen den Mantel zu entscheiden. Wie verzagt, wie ängstlich ich im Herzen war, das wußte niemand. Zitternd sagte ich : „Nein. Ich ziehe den Mantel nicht an.“ Sofort donnerte es über mir, Blitze und heftige Regenschauer peitschten auf mich herab. Wie kann ein Mensch sowas aushalten, fragte ich mich voller Furcht, und war überzeugt, die Liebe und Zuwendung meiner Mutter endgültig verloren zu haben. „Son schönes Mäntelchen, echt Hummelsheim, andere Kinder wärn froh, son schönen Lodenmantel zu ham, nur du bis undankbar, wie immer, du has was in dir, das hätte ich nich gewaacht, mich meinen Eltern gegenüber so zu benehmen,“ kreischte meine Mutter, während sie mich in den Mantel prügelte, „ du bist so ganz anders, als andere Kinder, das Barbara Tierbach, das würde nicht wagen, so frech zu sein, das wäre glücklich, wennes son schönen Hummelsheim-Mantel hätte!“ Mütter haben überhaut keine Ahnung von ihren Kindern, dachte ich mal wieder, denn wieso stand das Barbara Tierbach immer auf der Seite derer, die mich auslachten, wenn ich in dem zeltartigen Ungetüm von Hummelsheim an kam! Was ich daraus lernte: der niedliche, vielversprechende Markenname, der netten, brummelnden Hummeln ein Heim verhieß, war das einzig Verlockende an der Sache. Namen können nicht nur betören, sondern auch schmerzlich enttäuschen. Mit acht, in den Sommerferien, fuhren wir im VW-Käfer, unserem ersten Auto, durch den Odenwald und spazierten durch Michelstadt. Meine Mutter erblickte mit ihren immer wachen Adleraugen und Kennermiene ein Schuhgeschäftschaufenster in der Julisonne blitzen. Hoch erfreut entdeckte ich die schönsten schwarzen Lackschuhe, die ich bisher gesehen hatte. Natürlich bekam ich nicht die, sondern die deutlich herabgesetzten roten daneben. Warum sie beinahe geschenkt waren: ein Exemplar hatten sie wochenlang im Schaufenster gehabt. Ich wurde gezwungen, einen dunkel-Süßkirschroten und einen von der Sonne ausgebleichten fast paprika-orangenen Schuh zu tragen. „Was fürn Schühchen! Stelldich nich so an, den Unterschied sieht doch kein Mensch, so pingelich sind wer nich, kuckmada, nee, was fürn schönes Schühchen! Oooooooh!“
Jedes Frühjahr dergleiche Kampf: ich wollte unbedingt die schlecht sitzende, ewig rutschende, kratzige Strumpfhose eintauschen gegen Kniestrümpfe. Das erste Mal Kniestrümpfe an haben nach einem langen kalten Winter und die frisch-milde Frühlingsluft an den Beinen zu spüren, bedeutete mir eine unvergleichliche Sensation, auf die ich mit Vorfreude ungeduldig wartete. „Esis dochers Märchz! Esis eiskalt! Kuckmada, wiech friere!“ schrie meine Mutter wie jedes Jahr. Vor meinem geistigen Auge hatte ich das Bild eines gleichaltrigen, doch recht großen, auffallend blaßhäutigen Mädchens mit beinahe schwarzem Haar, stets zu akkuraten „Affenschaukeln“ frisiert, das an steifen, auffallend unsportlichen, staksigen schneeweißen Beinen bei fast jedem Wetter Kniestrümpfe mit Rautenmuster zu dunkel karierten Faltenröcken anhat. „Aber es ist doch gar nicht kalt, es ist so schön warm! Außerdem darf das Gabi Baum das ganze Jahr über Kniestrümpfe tragen, wie es das will! Dem seine Mutter verbietetem das nich!“ schrie ich zurück, „Das Gabi Baum hat ja auch nur ne Mutter, und keinen Vater! Außerdem denkn de Leute sonz, wer kümmern uns nich richtich um dich, wemwer dir sowas erlaum!“ schrie meine Mutter zurück, als ob das ein passendes Argument sei, und ich wurde fast verrückt, weil dieses Gefühl, wenn mir der knielange Rock um die bis auf die Kniestrümpfe ansonsten nackten Beine schwang und ich jeden Windhauch, auch den ganz zarten, sachten, auf meiner Haut wie ein Streicheln empfand. Es war das Ende des Gefühls des Eingesperrt-seins in unbequeme, kratzige „Wickel“, wollene Fesseln und widerliche Bandagen. Freiheit für meine Beine! Jahrelang waren meine Knie bedeckt von alten und neu hinzugekommenen Abschürfungskrusten, die ich allzu gerne abknibbelte, wenn sie im Endstadium der Heilung juckten. Abgesehen von den geliebten Kniestrümpfen war ich verrückt nach schneeweißen, völlig glatten Strumpfhosen, die ich allerdings nie bekam, weil meiner Mutter die glatten nicht gefielen, sie bevorzugte die mit ausgeprägter Streifenstruktur. Überhaupt hatten weder ich noch meine beiden jüngeren Geschwister ein Wörtchen mitzureden bei der Kleiderwahl. Allein meine Mutter bestimmte, welche Klamotten gekauft wurden. Dabei achtete sie streng auf gewisse Marken bzw. auf die Anziehgewohnheiten der Oberschicht. Ich sehe sie vor mir, wie sie augenverdrehend andächtig-schwärmerisch den Namen „Hummelsheim“ ausspricht und lebhaft mit Händen und Füßen versucht, Interesse bei mir zu wecken: „ Neee – wasn Mäntelchen, ooooh1 hasse sowwas schönes schomma gesehn! Mein Gott! Oooooh!“ Ich hatte einen ganz anderen Geschmack, ich hätte so gerne eine „Blue Jeans“ gehabt, doch meinte meine Mutter mit Verachtung in der Stimme, das seien „Arbeiterhosen“. Ich mußte nicht selten Kleider anziehen, von denen ich manche richtig haßte. Bei weitem das übelste Stück war ein scheußlicher graugrüner Lodenmantel, mit weit geschnittenem, abstehendem Rücken, viel zu kurzen und zu weiten Ärmeln und mir an Hals, Ohrläppchen und Unterkieferknochen schmerzenden, viel zu engen Stehkragen. Den bekam ich, als ich sieben Jahre alt war. Üblich bei dieser mir bis heute verhaßten Trachtenmode war das raue, schwere Material. Mein Hummelsheimprachtstück war so hart und steif, daß ich die Arme nicht richtig bewegen konnte und stets das Gefühl hatte, man habe den Mantel mitsamt des Bügels von der Garderobe genommen und mir angezogen. Mit hochgezogenen Schultern und angehobenen, leicht angewinkelten Armen mußte ich sonntags in dem fürchterlichen Kleidungsstück in die Kirche gehen. „Das ist ein echter Hummelsheim-Mantel!“ schrie ich wütend der spöttisch kichernden Kinder-Meute zu und vermochte meinen Tränenstrom nicht zu kontrollieren, was mich erst recht zur Weißglut trieb. Weil ich wegen seines Gewichts den Mantel nicht hochbekam, um ihn aufzuhängen, stellte ich das harte, steife Ungetüm einfach in einer freien Ecke auf den Fußboden, wo es aufrecht stehen blieb, ohne auch nur ein einziges Zentimeterchen zu verknicken. Wieviele wütende Tränen der Demütigung habe ich wegen dem beschissenen Lodenmantel vergossen, wieviele zornige Kämpfe vergeblich gefochten, wieviele Beleidigungen mit zusammengebissenen Zähnen ertragen müssen. Ich wünschte mir sehnlichst, den Mut aufzubringen, den Mantel einfach nicht mehr an zu ziehen. Doch ich war kein mutiges Mädchen, ich war ein verzweifeltes, unsicheres, verwirrtes Kind, das so gerne stark, tapfer, selbstsicher und, ja, auch ein kleines bißchen frech gewesen wäre. Erst nach vielen Monaten und durchweinten Nächten brachte ich es fertig, mich offen gegen den Mantel zu entscheiden. Wie verzagt, wie ängstlich ich im Herzen war, das wußte niemand. Zitternd sagte ich : „Nein. Ich ziehe den Mantel nicht an.“ Sofort donnerte es über mir, Blitze und heftige Regenschauer peitschten auf mich herab. Wie kann ein Mensch sowas aushalten, fragte ich mich voller Furcht, und war überzeugt, die Liebe und Zuwendung meiner Mutter endgültig verloren zu haben. „Son schönes Mäntelchen, echt Hummelsheim, andere Kinder wärn froh, son schönen Lodenmantel zu ham, nur du bis undankbar, wie immer, du has was in dir, das hätte ich nich gewaacht, mich meinen Eltern gegenüber so zu benehmen,“ kreischte meine Mutter, während sie mich in den Mantel prügelte, „ du bist so ganz anders, als andere Kinder, das Barbara Tierbach, das würde nicht wagen, so frech zu sein, das wäre glücklich, wennes son schönen Hummelsheim-Mantel hätte!“ Mütter haben überhaut keine Ahnung von ihren Kindern, dachte ich mal wieder, denn wieso stand das Barbara Tierbach immer auf der Seite derer, die mich auslachten, wenn ich in dem zeltartigen Ungetüm von Hummelsheim an kam! Was ich daraus lernte: der niedliche, vielversprechende Markenname, der netten, brummelnden Hummeln ein Heim verhieß, war das einzig Verlockende an der Sache. Namen können nicht nur betören, sondern auch schmerzlich enttäuschen. Mit acht, in den Sommerferien, fuhren wir im VW-Käfer, unserem ersten Auto, durch den Odenwald und spazierten durch Michelstadt. Meine Mutter erblickte mit ihren immer wachen Adleraugen und Kennermiene ein Schuhgeschäftschaufenster in der Julisonne blitzen. Hoch erfreut entdeckte ich die schönsten schwarzen Lackschuhe, die ich bisher gesehen hatte. Natürlich bekam ich nicht die, sondern die deutlich herabgesetzten roten daneben. Warum sie beinahe geschenkt waren: ein Exemplar hatten sie wochenlang im Schaufenster gehabt. Ich wurde gezwungen, einen dunkel-Süßkirschroten und einen von der Sonne ausgebleichten fast paprika-orangenen Schuh zu tragen. „Was fürn Schühchen! Stelldich nich so an, den Unterschied sieht doch kein Mensch, so pingelich sind wer nich, kuckmada, nee, was fürn schönes Schühchen! Oooooooh!“
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