Prolog
Meine Ahnen waren Zahnärzte, Lehrer und Versicherungskaufleute. Im schlecht sitzenden Gewand des Mittelmaßes waren sie leidenschaftliche Verfechter des Durchschnitts, und bereit, sich das Hemd zu zerreissen und die Brust zu entblössen, um für dieses erstrebenswerte Ideal den Märtyrertod zu sterben.
Meine Vorfahren wurden nicht, wie ich, nackt, nass und Klebrig von Schleim, rotlaufendes, triefendes Blut an unsäglichen Stellen des zu kleinen, zu durchschimmernden Körpers, durchdringend schreiend und wild nach Luft schnappend, ins Leben geschmissen, ohne jemals gefragt worden zu sein.
Von einer jungen, unschuldigen Mutter, die keine Ahnung hatte, warum sich ihr Leib immer mehr wölbte und schliesslich zu platzen drohte. Eine Mutter, die sich in rührend naiver Unerfahrenheit keine Vorstellung gemacht hatte von den Folterqualen der Erstgeburt.
Die Mütter meiner Vorfahren hielten plötzlich ein sauberes, gesichtsloses Neugeborenes im Arm, dem ein kleiner, unauffälliger Anzug anstatt Haut gewachsen war, und der, sehr praktisch, in jeder Lebensphase mitwuchs.
Diese Kinder brüllten nie. Zerkauten nie die mütterliche Milchbrust, drohten nie mit winziger Faust, traten niemals freundliche Mitmenschen in den Magen. Sie rotzten, kackten, spuckten, kotzten und fluchten nicht und konnten von der ersten Sekunde ihres Daseins an manierlich mit Messer und Gabel essen, sich das deformierte Mundschlitzchen mit Servietten graziös abtupfen und artig „danke sssön!“ hauchen. Diese Kinder wussten vom ersten Atemzug bis zur letzten Sekunde emsiger, ereignisloser Existenz – alles!
Ihr habt es gehört.Ich schwöre es. Sie wussten ALLES! Gott sei mein Zeuge!
Sie waren GANZE MENSCHEN. Sie kannten das Leben, ohne es vorher jemals gelebt haben zu müssen. Später sagten sie wieder und wieder, das ich nicht extra leben bräuchte, das sei nur hinderlich bei der Arbeit, und das die Arbeit dem Leben GLANZ&SINN verleiht.
Glaubt mir, ich versichere euch, auch ich wollte das!
Putz das da, sagten sie, das ist eine Arbeit, welche auch deiner verlorenen Seele GLANZ&SINN schenken wird!
Bei Gott, den ich erneut als Zeugen bemühen muss, ich schwöre es:
Ich habe es versucht !!!
Gläsernes Kind mit Flügeln, durch welche die blauvioletten Adern scheinen!
Sagten sie zu mir (schon mürrischer), feg hier das da! Und feg andächtig, und sei dankbar, und bete zum Strengen Gott, auf dass Er sich erbarme, und es wird sich Dir der GLANZ&SINN des Fegens erschliessen!
(Er weiss es genau, der Allmächtige, dass ihm seine Fähigkeit zum Erbarmen beim Anblick des Wesens, welches ich bin, abhanden gekommen ist, wie einem Zauberkünstler, der auf der Bühne plötzlich von Angst vor dem Publikum überwältigt wird.)
Es kam die Zeit, da meine Vorfahren die Geduld mit mir verloren. Natürlich ist das nicht deren Schuld: Ihr müsst wissen, dass ich von Anfang an eine durch und durch unbegabte, ungeschickte und uneinsichtige Kreatur war. Unschön.
Und so sprecht Ihr mit dem Recht der Stärke über die Schwäche: Du, die Du die Vagina Deiner Mutter, die Dich volle drei Tage und Nächte in ihrem aufgedunsenen Leib mit ihrem eigenen Blut und ihrem eigenen Urin ernährte, aufgeschlitzt hast mit scharfen, kleinen Krallen, dass sie fast ausgeblutet wäre wie ein soeben geschlachtetes Schaf!
Du, die Du Dich nicht hast fertig ausbrüten lassen und die Du in Deiner ungezügelten Unersättlichkeit Nichtigkeiten wie Leben und Tod den Vorzug gabst!
Du, die Du dir hast keinen kleinen, unauffälligen Anzug wachsen lassen und lieber Haut und Schuppen und Fell und Horn trägst!
Du, die Du es gewagt hast, ein Heiliges Recht anzugreifen, indem Du Dir die verklebten Augen einen Spalt weit aufgekratzt hast, anstatt mit zugewachsenen Lidern, wie WIR alle, geboren zu werden!
Du, die Du unfähig warst, den GLANZ&SINN der Arbeit zu erkennen – nicht hast erkennen wollen in Deinem Starrsinn, den Du in schauriger Weise verwechselst mit dem Stolz:
WIR verfluchen DICH!
Als HALBER Mensch sollst Du in Einsamkeit auf Berggipfeln, in Höhlen, am Meeresboden und in Wüsten umherirren, den Wahnsinn und die Schwermut im Schlepptau!
WIR verfluchen Dich, HALBER Mensch!
(Beschwichtigung heuchelnd:)
Gut. Du bist schön, Gläserne, Zerbrechliche, aber... (spöttisch, schadenfroh:)
... so verwundbar! So verletzlich! So...leicht zu zertreten! Hahaha!
Meine spitzen Ohren verweigerten ihren Dienst. Taub durchwanderte ich fortan die Weiten und die Wüsten und die Wasser und die Wälder, immer weiter und weiter weg von den netten, drollig-niedlichen, seufzenden Behausungen der
GANZEN MENSCHEN.
Ich habe den Schöpfer getroffen; seine Engel mit den müden Augen und ermatteten, herunterhängenden, halb ausgerissenen Flügeln folgten ihm klagend. Mein verdorbener Instinkt roch den Duft des einen Engels, der in der erbärmlichen Schar aufrecht schritt, die mächtigen Schwingen ab und an ausstreckend, ein Anflug grausamschöner Überlegenheit umspielte kaum merklich seine auf ewig straffen Lippen.
Uns ich sah in seine Augen und blickte in weit geöffnete,
in endlose Abgründe.
Und mich verlangte es nach ihm und ich begehrte ihn.
Gläserne! Küsse mich! Sprach stumm der Engel.
Und ich tat, wie er mir aufgetragen hatte, und wir verschmolzen in Kuss und Gier, in Gier und Kuss.
Seither befinde ich mich im Zustand der Gnade.
Montag, 22. März 2010
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