Mittwoch, 31. März 2010

Vorsichtig trug er den länglichen Umschlag in beiden Händen hoch in den dritten Stock. Er holte tief Luft, riß entschlossen die Wohnungtür auf, stolzierte in das Gute Zimmer. Lässig nahm er auf dem Sessel seines Vaters Platz. Sogar breitbeinig. Wie ein Soldat. Inge ließ den Putzlappen sinken, begriff die Tragweite der Situation, schritt zum Klappstuhl hinter der Schrankwand, entfaltete ihn, machte es sich so bequem, wie möglich, und betrachtete die schneeweißen, gestärkten Gardinen vor dem Fenster. Befriedigt stellte sie fest, „…sie sehen ja wirklich aus, wie Luft..“ Es lag eine Spannung in der Luft.
„Hohl ä Priew Öwnä!“ (= Hol einen Brieföffner). Sie stand auf, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Es war die Aufforderung zur Musterung. Nicht jeder kann einfach so in die Bundeswehr eintreten. Man braucht bestimmte Voraussetzungen. Man muß fähig sein. Man braucht ein gewisses Talent. Horst verdoppelte seine Vorstellungskraft: er würde es schaffen. Er würde niemals danebenschießen.
Leider kam es nie so weit. Nun, er war in der Musterung immerhin so gut, daß sie ihm versicherten, er würde einen, seinen ganz persönlichen Einberufungsbefehl bald erhalten. Horst verbrachte zusammen mit seinen Eltern eine Zeit glücklicher Erwartung. Man war nett, rücksichtsvoll und großherzig zueinander, und wartete geduldig auf den Befehl. Er würde kommen. Dann war es soweit. Horst wurde tränen- und segensreich (mit zahlreicher Wegzehrung, die seine Mutter versonnen lächelnd sorgfältig zubereitete hatte) für die Reise in die Lebenstüchtigkeit entlassen.
Zwei Tage später. Im Reihenhaus klingelte es Sturm. Verstört öffnete sein Vater die Wohnungstür, schaute schnell links und rechts, schloß die Tür und drehte vorsichtshalber noch den Schlüssel rum. In der Küche sassen sie dann alle drei für die nächsten Stunden. Schweigend. Mit langen Gesichtern vor sich hinstarrend am Tisch.
Möglicherweise war Horst war ein bißchen zu eifrig gewesen. Sie feuerten ihn nach kurzer Beratung am Morgen des zweiten Tages mit der fadenscheinigen Begründung, dass Männer, die den sehnlichen Herzenswunsch hegen, niemals daneben zu schießen, in der Bundeswehr nicht wirklich erwünscht sind. Ob Horst statt dessen als Zivildienstleistender, in einem Altersheim oder so,..mehr für seine charakterliche Entwicklung…oder so was in der Richtung. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis die Familie dieses Ereignis einigermaßen verdrängen konnte und langsam eine oberflächliche Ruhe über die Wohnung im dritten Stock sank. Die Aufgewühltheit der verzagten Herzen blieb so lebendig wie der Vulkan Merapi auf Java. Sie hat sich nie wieder gelegt.

Dienstag, 30. März 2010

Je älter der Horst wurde, desto verrückter wurde er. Er sonderte sich immer schon ab von den anderen Kindern aus den Reihenhäusern, begann, ein unnatürliches Interesse für ausgeklügelte Methoden der Reinhaltung von Wohnung, Möbeln, Gegenständen aller Art in seiner näheren Umgebung zu entwickeln. Bereits nach wenigen Jahren hatte er eine spezielle, vermutlich hocheffektive Art gefunden, sich die Hände zu waschen,- kurzum, er hatte eine ausgewachsene Zwangsneurose. Horst wurde größer und größer. Und immer kräftiger. Das konnte ich auf den Fotos sehen, die meine Mutter im Abstand von mehren Jahren immer mal wieder vorlegte.“Kuck mal, so siehder Hochst jetzt aus!“ Viele Jahre später, er hatte es irgendwie bis zum Studenten an der Universität zu Frankfurt gebracht, was es für ein Fach war, weiß ich nicht mehr,ich glaube aber Jura, trat er einer Schlagenden Verbindung bei. Gleich bei der ersten Fechtübung wurde dem Horst sein eines Auge ausgestochen. Die entsetzten Eltern erlebten ein Drama. Ein passendes Ersatzauge für die grauenhafte Höhle in seinem Gesicht ließ sich ohne die richtigen Beziehungen nur schwer auftreiben. Nach vielen Tränenozeanen und schlaflosen Nächten beschafften Vater Reinhold und Mutter Inge, mittlerweile zu allem entschlossen, auf abenteuerliche Art und Weise und am Rande der Legalität, ein farblich beinahe, dafür in diese eigenartige Schlitzform mikromillimetergenau passendes Auge aus pechschwarzem, schimmerndem Glas. Ich bekam ehrfürchtige Schauer, als ich die Erwachsenen meiner Familie den Begriff „Muranoglas“ („Wirklich? Echtes Muranoglas?“) flüstern hörte. Ich beobachtete mich in dem protzigen neuen Spiegel, den meine Mutter in unserem einen Wohnzimmer heute morgen hatte aufhängen lassen. Wie sah ich aus, wenn ich Geheimnisse erfuhr, die nicht für meine Augen bestimmt waren… und merkte selbstkritisch, dass ich wie erstarrt aussah in so einer Situation. Von da an trainierte ich fleißig das genaue Ohren-Spitzen-und-unbeteiligt-aussehen. Zurück zu „Hochst“. „Männer um die Zwanzig müssen lernen, wie man unser deutsches Land verteidigt gegen „böse rote Russen und andere rote Kommunisten“, wie mein Opa sie in seiner Umnachtung zu nennen pflegte. Sein Land verteidigt man am besten mit kurzgeschnittenen Haaren. In einer Uniform. Mit schönen, glänzenden Stiefeln. Wie Tante Inge berichtete, wollte Horst das schon mit vier Jahren, als er noch auf dem Spielplatz vor dem Reihenhaus mit fest zusammengepreßten Augen und Hinterbacken von seiner kleinen Mutti abtransportiert wurde, abwechselnd überlegend, wie man die zwei wichtigsten Künste unter einen Hut bringt, die Kunst der Hygiene, und, besonders atemberaubender Gedanke, wie lerne ich, niemals danebenzuschießen. Horst war selten in seinem Leben so aufgeregt gewesen, als er mit bebender Lunge nach bangen Monaten des Wartens den ersehnten Einberufungsbefehl zur Bundeswehr vorfand.

Montag, 29. März 2010

Für einen Moment schob er alle Hemmungen beiseite und stellte sich vor, wie er sie flachlegen würde. Es gefiel ihm sehr, was er da sah. So sehr, dass er beinahe über die letzten Treppenstufen gestolpert wäre. Er wußte, ihr würde nichts entgehen, nicht mal eine herabschwebende Schuppe. Und das machte sie für ihn noch begehrenswerter. Ein Mädchen, dem kein Schüppchen entgeht!entfuhr es seinen Lippen. Sie mußte was gehört haben.
„ Nee! das kann nich sein! Ich habbes sehr gewissenhaft gemacht. Und schnell! Wupp-wupp!“
Fasziniert starrte er die Treppe runter, auf das putzende Mädchen mit diesen komischen Gummigaloschen und dem ermutigenden Strahlen im Blick. Verträumt wiederholte er diese Worte, die ihm wie der Schlüssel zu ihrem Herzen und zu ihrem Unterleib vorkamen:
„Wupp-wupp!“
Sie nickte. Eifrig, wie zum Beweis, schwang sie den nassen Aufnehmer, während sie nach oben ins Dunkle sah, man war ja sparsam, und Elektrizität ist nicht billig; schliesslich hat der Allmächtige den Menschen vorsichtshalber mit einem Tastsinn ausgestattet. Fröhlich kichernd wischte sie die Treppenstufen ab, eins, zwei, drei, vier, ….wupp-wupp.
Ihre drei Geschwister bewundern sie insgeheim, sind gar ein bißchen neidisch, weil sie so gut im Putzen und im Lions-Club ist. Meine Mutter hatte mehr Glück, als die anderen drei Zahnarztkinder, alle überragt sie an Glanz und Leuchtkraft. Die herzensgute Inge, die älteste, die Kleine mit den breiten Hüften und den wunderschönen, glatten, naturblonden Haaren, zu einer eleganten Frisur streng hochgesteckt, damit sie ein bißchen größer wirkte, heiratete selbstverständlich auch und zog irgendwo in die Nähe von Frankfurt am Main. In Frankfurt kann man an jeder Ecke hervorragendes Kokain und erstklassiges Crack kriegen und sich zwischen parkenden Autos oder in der S-Bahn einen Druck machen. Tolle Stadt. Inge interessierte sich aber keineswegs für Drogen, sondern nur für Mann und Sohn. Sie stand schwer unter der Fuchtel ihres sächsisch sprechenden Mannes Reinhold. Sie hat in ihrem ganzen Leben noch niemals eine eigene Entscheidung getroffen und fragt ihn, ob sie aufs Klo muß. Der einzige Sohn Horst ( der „Hochst“) sah als Baby aus, wie ein Koreaner, rundes, flaches Gesicht, seltsam gelb-bräunlicher Teint, pottschwarze Haare und geschlitzte Augen, so schwarz, wie zwei Filzstifte. Er war niedlich, aber wirkte seltsam auf der alten Fotografie, die zwei unbeschwert lächelnde junge Mütter mit ihren in dicke Mullwindeln verpackten Babies zeigt. Das eine Baby ist weiblich. Das werde ich mal sein. Das andere, das männliche, schaut angestrengt in die Kameralinse mit so schmalen Augen, daß ich mich gefragt habe, ob er überhaupt dadurch gucken kann. Als vier- fünfjähriger wurde er im Viertel berühmt. Wenn er auf dem Spielplatz vor dem Reihenhaus vom Ruf des Mastdarms überrascht wurde, begann er lauthals zu brüllen: „Muddi! Muddi! Schmusö Ba-Hauwö! Muddi! Muddi! Schmusö Ba-Hauwö!“ , das ist frankfurterisch und heißt in hochdeutsch: Mutti! Mutti! Ich muß einen Bah-Haufen! Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft und fest zusammengepreßten, geschlitzten Augen schrie der stämmige kleine Junge mit dem koreanischen Pfannekuchengesicht diesen Text solange, bis die etwas kurz geratene ältere Schwester meiner Mutter ihre breiten Hüften in Bewegung setzte, sie die Treppen hinunterschwang und den entsetzlich heulenden Horst in Windeseile in die Wohnung im dritten Stock aufs Klo schaffte.

Sonntag, 28. März 2010

Der verwirrte, junge Mann mit dem Köfferchen entschloß sich auf den nächsten Treppenstufe, dieses rassige Mädchen zu heiraten. Er war heilfroh, katholisch zu sein. Nachdem er im Sekundenbruchteil abtaxiert worden war, wie es professioneller nicht hätte sein können, wußte meine zukünftige Mutter in ihren praktischen, weil wasserundurchlässigen, knöchelhohen Gummiüberziehern, dass sie es mit dem zukünftigen Vater ihrer Kinder zu tun hatte. Als sie sich nach genau einer Sekunde und fünfzehn Millisekunden ganz sicher war und weiteres Prüfen für unnötige Energieverschwendung befand, wandte sie sich wieder ihrer Treppenputzerei zu. Benommen stakste mein zukünftiger Vater die Stufen hoch, bemüht, die blitzblank gewienerten Stufen nicht mit einem herabrieselnden Staubkorn zu entweihen. Er machte sich Sorgen darüber, ob eventuell eine Schuppe seines Haupthaars herabfallen und alles verderben würde.

Freitag, 26. März 2010

Sie merkte, dass sie etwas vergessen hatte. Sie tat einen tiefen Atemzug und rief hoffnungsvoll hinter meinem zukünftigen Vater her: „Ich tanze schrecklich gerne!“ Sie war naiv, ich erwähnte es. Normalerweise ist Naivität eine gute Eigenschaft. Sie ist nur insofern schlecht, als das ihr Träger oft ausgenutzt wird. Für meine Mutter war eine andere, seltenere Form der Naivität charakteristisch. Sie versuchte, unter allen Interessenten den Besten herauszufinden, ohne auch nur einen Atemzug lang die Distanz zu verlieren. Sie ließ keinen ran.
Ihre Geschwister waren ganz anders geartet. Sie hatte deren drei. Sie war die zweite. Zuerst kam die ältere Schwester Inge, dann sie, und die beiden letztgeborenen waren die zweieiigen Zwillinge Gerd und Erika. Vier absolut verschiedene Kinder. Aber nur meine zukünftige Mutter hatte so eine ausnehmend einnehmende Wirkung auf die Männerwelt. Vor allem war es Erika, die darauf schrecklich eifersüchtig war. Sie tat alles mögliche, um zu gefallen. Komisch, warum klappte es bei ihr nicht auch so, wie bei meiner reinen, stets lachenden zukünftigen Mutter.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die übriggebliebenen Männer es leid, immer nur weinende Frauen zu sehen. Deshalb ist klar, wo das Geheimnis des unerklärlichen Erfolges meiner katholisch erzogenen weltunerfahrenen,einundzwanzigjährigen, zukünftigen Mutter bestand. Ich erwähnte es bereits, sie war naiv.
Fröhlich, jung, hübsch, kerngesund, topfit im Haushalt, temperamentvoll, und doch gehorsam, ja, unterwürfig,: sie strahlte aus, was Männer unwiderstehlich anzieht, und, erstaunlich: – sie setzte nichts bewußt ein.
Sie konnte gerade mal berechnen, ob der vor ihr knieende, bis zur Blindheit verliebte, gebildete Akademiker die Aufzucht ihrer zukünftigen Jungen plus den Unterhalt ihrer eigenen Person aufzubringen in der Lage war. Ihre Vitalität wirkte auf meinen zukünftigen Vater, als ob nichts in der Welt sie jemals kleinkriegen würde. Noch auf der Treppe beschloß er, sie zu heiraten und mit ihr Kinder zu haben.

Mittwoch, 24. März 2010

Obgleich die jungen Männer zu Dutzenden das dreistöckige Haus umlagerten, Heiden, wie Katholiken gleichermaßen, meine zukünftige Mutter fortwährend heiter lächelte und das dreistöckige Haus inklusive Dachboden und Keller in Ordnung hielt, gelang es ausser meinem zukünftigen Erzeuger niemandem, die Festung zu stürmen. Mein zukünftiger Vater schickte sich an, den Koffer nach oben in die von ihm gemietete Mansarde im Hause meines zukünftigen Großvaters zu tragen. Sein weiteres Schicksal entschied sich auf der Treppe hoch zum dritten Stock.

Dienstag, 23. März 2010

Teil 1 / Chronologie

Eine winzig kleine Hoffnung kann ich nicht aus meinem Kopf rauskratzen. Es könnte ja sein, daß ich im Moment meines Todes ausgestattet bin mit besonderen Fähigkeiten. Fähigkeiten, die mir Zeitreisen erlauben. Möglichkeiten, die es mir gestatten, in frühere Existenzen einzutauchen, sie (erneut..?) zu erleben,… zumindest, mich ihrer zu erinnern. Warum nicht auf zeitgemäße Art, wie beim Fernsehgucken als unbeteiligte Zuschauerin, bei einem Inquisitionsprozess, einer Mammutjagd, bei Druidenritualen in alten Stonehenge, der Zerstörung der großen Bibliothek von Alexandria durch Dschingis Khan’s Mongolenhorde; die Einweihungsfeiern der Großen Pyramide von Tenochtitlan, in Pompeji den Vesuv-Ausbruch, in Kambodscha die Errichtung des Angkor Wat, Geheimnisse in der Verbotenen Stadt Peking‘s mit zu erleben. Wenn ich an manchen Punkten meines Lebens mit 100%iger Sicherheit gewußt hätte, in jede Epoche, deren Geheimnisse mich faszinierten, versetzt werden zu können, Antworten auf immer die gleiche Fragestellung zu finden…ich hätte mich gemütlich umgebracht. Ungestüme Kindlichkeit, übermütige Neugier… habt Nachsicht mit mir. Ich werde es noch früh genug erfahren. Mit Sicherheit. Dennoch lebt die Frage im Verborgenen weiter wie ein glimmender Holzscheit, der bei günstigem Windstoß ein kräftiges Feuer auflodern lässt. Nagend manchmal. Lästig. Beunruhigend hartnäckig. Immer wieder kreisen meine Gedanken zwanghaft um das gleiche Thema: wenn ich wüßte, im Augenblick meines Übergleitens oder auch kurz danach alle Geheimnisse zu durchschauen, über jede gewünschte Erkenntnis Gewissheit zu erlangen …wenn ich mir sicher sein könnte, wahre Antworten zu finden…..was wäre dann…was würde ich tun.. wäre ich fähig, Geduld aufzubringen und zu warten, bis ich den Löffel abgebe? Ich bin von ungeduldiger, nervöser, leicht reizbarer Natur, es fällt mir schwer, vorauszusagen, was ich tun werde.
Zunächst wurde ich erst einmal gemacht. Meine Erzeuger waren alle beide unerfahren auf diesem Gebiet. Es gab andere Themen als die Herstellung von Kindern, auf denen sie sich weitaus besser auskannten. Meine Mutter zum Beispiel beherrschte die Kunstfertigkeit, Federvieh korrekt zu rupfen, auszunehmen und es knusprig zuzubereiten. Sie wußte, wie ein großes, dreistöckiges Haus mit vielen, vielen, Öfen im Winter warmgemacht wurde. Sie war eine Meisterin im Berechnen von Haushaltsausgaben gemessen am zur Verfügung stehenden Budget. Und da die Natur sie überreichlich mit der wohltuenden Eigenschaft der Naivität versehen hatte, und sie den 2. Weltkrieg besser überstanden hatte, als so manch anderer in ihrer näheren Umgebung, glaubte sie, in der Tat einen Grund zum Lachen zu haben. Ihr heiteres Wesen bescherte so manchem jungen Mann eine schlaflose Nacht nach der anderen. Überhaupt lebte sie wie in einem Traum. Nicht wie im Traum, sondern „Wie in einem Traum“. Zum Träumerischen hatte sie von der Natur nicht das nötige Maß schöpferischer Vorstellungskraft mitbekommen, und nach schweren Kriegszeiten ist sowieso tatkräftiges Zu- und Anpacken gefragt. Heiterkeit (lächeln, grinsen, kichern, fast pausenlos) verwechselte ich jahrzehntelang mit Humor. Humor besitzt meine Mutter nämlich nicht. Ich habe Humor. Ich kann witzig sein und bin empfänglich für fast alles, worüber man sich amüsieren kann. Wir lachen nicht über die gleichen Dinge. Was ich witzig finde, findet sie meistens scheußlich. Oder sie versteht überhaupt nicht, warum ich etwas witzig finde. Außerdem braucht sie oft lange, um einen Witz als Witz zu identifizieren. Meine zukünftige Mutter lachte entweder aus Verlegenheit oder weil sie oft nichts besseres zu tun hatte. Schlechte Laune konnte sie nicht leiden, bei niemandem. So machten sie ihr Sinn fürs Praktische zusammen mit dieser eigentümlichen Heiterkeit zu einer begehrten Anwärterin für den Bund der Ehe, den in diesen trostlos-hoffnungsvollen Tagen zehn Jahre nach Kriegsende zahlreiche junge Christen zu schließen anstrebten.

Montag, 22. März 2010

Prolog


Meine Ahnen waren Zahnärzte, Lehrer und Versicherungskaufleute. Im schlecht sitzenden Gewand des Mittelmaßes waren sie leidenschaftliche Verfechter des Durchschnitts, und bereit, sich das Hemd zu zerreissen und die Brust zu entblössen, um für dieses erstrebenswerte Ideal den Märtyrertod zu sterben.
Meine Vorfahren wurden nicht, wie ich, nackt, nass und Klebrig von Schleim, rotlaufendes, triefendes Blut an unsäglichen Stellen des zu kleinen, zu durchschimmernden Körpers, durchdringend schreiend und wild nach Luft schnappend, ins Leben geschmissen, ohne jemals gefragt worden zu sein.
Von einer jungen, unschuldigen Mutter, die keine Ahnung hatte, warum sich ihr Leib immer mehr wölbte und schliesslich zu platzen drohte. Eine Mutter, die sich in rührend naiver Unerfahrenheit keine Vorstellung gemacht hatte von den Folterqualen der Erstgeburt.
Die Mütter meiner Vorfahren hielten plötzlich ein sauberes, gesichtsloses Neugeborenes im Arm, dem ein kleiner, unauffälliger Anzug anstatt Haut gewachsen war, und der, sehr praktisch, in jeder Lebensphase mitwuchs.
Diese Kinder brüllten nie. Zerkauten nie die mütterliche Milchbrust, drohten nie mit winziger Faust, traten niemals freundliche Mitmenschen in den Magen. Sie rotzten, kackten, spuckten, kotzten und fluchten nicht und konnten von der ersten Sekunde ihres Daseins an manierlich mit Messer und Gabel essen, sich das deformierte Mundschlitzchen mit Servietten graziös abtupfen und artig „danke sssön!“ hauchen. Diese Kinder wussten vom ersten Atemzug bis zur letzten Sekunde emsiger, ereignisloser Existenz – alles!
Ihr habt es gehört.Ich schwöre es. Sie wussten ALLES! Gott sei mein Zeuge!
Sie waren GANZE MENSCHEN. Sie kannten das Leben, ohne es vorher jemals gelebt haben zu müssen. Später sagten sie wieder und wieder, das ich nicht extra leben bräuchte, das sei nur hinderlich bei der Arbeit, und das die Arbeit dem Leben GLANZ&SINN verleiht.
Glaubt mir, ich versichere euch, auch ich wollte das!
Putz das da, sagten sie, das ist eine Arbeit, welche auch deiner verlorenen Seele GLANZ&SINN schenken wird!
Bei Gott, den ich erneut als Zeugen bemühen muss, ich schwöre es:
Ich habe es versucht !!!
Gläsernes Kind mit Flügeln, durch welche die blauvioletten Adern scheinen!
Sagten sie zu mir (schon mürrischer), feg hier das da! Und feg andächtig, und sei dankbar, und bete zum Strengen Gott, auf dass Er sich erbarme, und es wird sich Dir der GLANZ&SINN des Fegens erschliessen!
(Er weiss es genau, der Allmächtige, dass ihm seine Fähigkeit zum Erbarmen beim Anblick des Wesens, welches ich bin, abhanden gekommen ist, wie einem Zauberkünstler, der auf der Bühne plötzlich von Angst vor dem Publikum überwältigt wird.)
Es kam die Zeit, da meine Vorfahren die Geduld mit mir verloren. Natürlich ist das nicht deren Schuld: Ihr müsst wissen, dass ich von Anfang an eine durch und durch unbegabte, ungeschickte und uneinsichtige Kreatur war. Unschön.
Und so sprecht Ihr mit dem Recht der Stärke über die Schwäche: Du, die Du die Vagina Deiner Mutter, die Dich volle drei Tage und Nächte in ihrem aufgedunsenen Leib mit ihrem eigenen Blut und ihrem eigenen Urin ernährte, aufgeschlitzt hast mit scharfen, kleinen Krallen, dass sie fast ausgeblutet wäre wie ein soeben geschlachtetes Schaf!
Du, die Du Dich nicht hast fertig ausbrüten lassen und die Du in Deiner ungezügelten Unersättlichkeit Nichtigkeiten wie Leben und Tod den Vorzug gabst!
Du, die Du dir hast keinen kleinen, unauffälligen Anzug wachsen lassen und lieber Haut und Schuppen und Fell und Horn trägst!
Du, die Du es gewagt hast, ein Heiliges Recht anzugreifen, indem Du Dir die verklebten Augen einen Spalt weit aufgekratzt hast, anstatt mit zugewachsenen Lidern, wie WIR alle, geboren zu werden!
Du, die Du unfähig warst, den GLANZ&SINN der Arbeit zu erkennen – nicht hast erkennen wollen in Deinem Starrsinn, den Du in schauriger Weise verwechselst mit dem Stolz:
WIR verfluchen DICH!
Als HALBER Mensch sollst Du in Einsamkeit auf Berggipfeln, in Höhlen, am Meeresboden und in Wüsten umherirren, den Wahnsinn und die Schwermut im Schlepptau!
WIR verfluchen Dich, HALBER Mensch!
(Beschwichtigung heuchelnd:)
Gut. Du bist schön, Gläserne, Zerbrechliche, aber... (spöttisch, schadenfroh:)
... so verwundbar! So verletzlich! So...leicht zu zertreten! Hahaha!
Meine spitzen Ohren verweigerten ihren Dienst. Taub durchwanderte ich fortan die Weiten und die Wüsten und die Wasser und die Wälder, immer weiter und weiter weg von den netten, drollig-niedlichen, seufzenden Behausungen der
GANZEN MENSCHEN.
Ich habe den Schöpfer getroffen; seine Engel mit den müden Augen und ermatteten, herunterhängenden, halb ausgerissenen Flügeln folgten ihm klagend. Mein verdorbener Instinkt roch den Duft des einen Engels, der in der erbärmlichen Schar aufrecht schritt, die mächtigen Schwingen ab und an ausstreckend, ein Anflug grausamschöner Überlegenheit umspielte kaum merklich seine auf ewig straffen Lippen.
Uns ich sah in seine Augen und blickte in weit geöffnete,
in endlose Abgründe.
Und mich verlangte es nach ihm und ich begehrte ihn.
Gläserne! Küsse mich! Sprach stumm der Engel.
Und ich tat, wie er mir aufgetragen hatte, und wir verschmolzen in Kuss und Gier, in Gier und Kuss.
Seither befinde ich mich im Zustand der Gnade.

Sonntag, 21. März 2010

Sehr geehrte Herren!

So lautete die generelle Anrede eines meiner Buchhelden, egal, an wen er sich wendet, egal, ob privat, odre geschäftlich. Aus Respekt übernehme ich das hier und weise ausdrücklich darauf hin, daß sich jede angesprochen fühle.
Das Pseudonym "Marlon Shy" diente mir von 1985 bis 1998 nicht nur als Deckname für Aktivitäten ausserhalb der Legalität, sondern ab 1992 vor allem in meiner Eigenschaft als Malerin, Zeichnerin, Gedichterin, Fotografie- und Filmschaffende. Der "Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke Tübingen" veröffentlichte in den 90ern 4 Fotobücher (teils in Zusammenarbeit mit Carla Subito als Künstlerduo "Fetisch Park") und sieben Filmarbeiten, die sich ausserhalb des Mainstreams mit der Verbindung von Intellekt und Sexualität beschäftigen. Google mal rum diesbezüglich! "Muriel Scheu" heiße ich seit dem 18. 04. 1998, an dem Tag begann ich während der Entgiftung in der Psychosomatischen Klinik in Bergisch-Gladbach mit dem Schreiben meines Manuskriptes zu "Kein Ganzes Halbes", in welchem ich einige wenige Teile meines Lebens bis zum Frühsommer 1985 geschildert werden.
Da ich keinerlei Computerfertigkeiten besitze, bin ich zunächst noch auf Hilfe angewiesen, sodaß ich vorläufig nur am Wochendene diesen Blog pflegen kann. Er wird den großen Stapel zum Inhalt haben, der dem Lektorat meines am 16.01.2010 von Wunderlich /Rowohlt auf den Markt geschmissenes Buch "Kein Ganzes Halbes", 476 Seiten, 19,90 Euro, zum Opfer gefallen ist. An dem Manuskript habe ich während acht Jahren immer wieder gearbeitet, sodaß sich meine Agentur mit ungefähr 1800 Seiten ein bißchen überfordert fühlte.